Bei Pop, Rock und Rap strömen die Fans, Jazz verharrt in den Nischen
1994 schrieb ich im „Jazz Podium“: „Der sommerliche Stuttgarter Jazzgipfel litt unter Zuschauerschwund, und ein neues Organisationsteam ohne das Theaterhaus wollte mit mehr populistischem Zeitgeist das Festival attraktiver gestalten. In den elektronischen Medien war das Spektakel präsent – das Regionalfernsehen „Südwest 3“ und der niveauvolle TV-Kanal „3sat“ übertrugen „live“ und zeitversetzt, aber der Hegel-Saal im Stuttgarter Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle wies meist gelichtete Reihen auf“.
Wie sich die Zeiten und Spielstätten ändern. Nunmehr begingen die „Jazzopen Stuttgart“ jubilierend seine 25. Ausgabe und feierten in einer Presseverlautbarung nach den langen elf Festivaltagen einen „Besucherrekord mit 45.000 zahlenden Besuchern, 99 Prozent Bühnenauslastung und eine Live-Schalte aus dem All“.
Insgesamt ein unter der Regie von Jürgen Schlensog bewerkstelligtes Mammut-Event mit vielen parallel verlaufenden „acts“ und unzähligen Gruppierungen, die teilweise ziemlich kurzfristig ins Programm genommen wurden. Freilich: Am ereignisreichen Wochenende vor Schulferienbeginn strömten alleine 65.000 Fans zu Campinos konkurrierenden „Toten Hosen“ auf den Cannstatter Wasen (und auf dem landeshauptstädtischen Marktplatz fand das traditionell gut besuchte „Sommerfestival der Kulturen“ nicht ohne jazzige Beiklänge statt).
Total ausverkauft war der drittletzte Jazzopen-Abend auf dem schmucken Schlossplatz. 7.000 mit 3D-Brillen bestückte Gäste hatten personalisierte Eintrittskarten ergattern können zum visionären Kult-Ensemble „Kraftwerk“, dessen einstiger Mitbegründer Florian Schneider-Esleben 1969 als Flötist immerhin den damals einzigartigen Jazzkurs in der Akademie Remscheid besuchte. Nun klinkte sich der in der ISS aktive (aus dem nordwürttembergischen Künzelsau stammende) Astronaut Alexander Gerst direkt in den schwäbischen Event seiner Lieblingstechnogruppe ein und musizierte schwerelos bei dem legendären Titel „Spacelab“ auf einem auf Synthesizerklänge programmierten Tablet-Computer vergnügt mit. Ein gelungener Gag, welcher umgehend seinen Niederschlag in den „News“ aller Arten erfuhr. Der Jazz per se macht da ja weniger Schlagzeilen….
Immerhin öffneten sich die Jazzopen an verschiedenen Örtlichkeiten internationalen Newcomern und Vertretern der regionalen Szene, oft bei freiem Eintritt. Man musste mitunter gar nicht physisch an der „Location“ sein. Aus dem Jazzclub „BIX“ und vom „Eventcenter Spardawelt“ konnte man am persönlichen Equipment bequem per Livestream den Konzerten beiwohnen – und diverse Mitschnitte sind eine Zeitlang bei der Mediathek von jazzopen.com abrufbar. Noch bis 17. August ist übrigens die zunächst live im Internet übertragene Schlossplatz-Show der britischen Disco-Band Jamiroquai auf arte.tv nachzuerleben.
Aber auch Momente der Besinnung wurden offenbart. In der nachbarschaftlich zum Neuen Schloss gelegenen Domkirche St. Eberhard entfiel für ein Recital von Lokalmatador Wolfgang Dauner am späten Freitagnachmittag die Beichtmöglichkeit für Sünder. Der 82jährige Pianist zelebrierte auf dem vor dem Altarraum postierten Steinway in romantisierendem Gestus harmonierend Weisen aus eigener Feder. Häufiger Einsatz vom rechten Pedal im heilig-halligen Kirchenschiff. Auf sein zunächst dreiertaktiges „Psalmus Spei“, 1968 kreiert für Kirchenchor und Jazzsolisten, auf den Thomaskantor Bach oder etwa auf amerikanische Gospels bezog sich Dauner – wohl bewusst – nicht. Schlussendlich ehrende „standing ovations“ der entzückten Jazz-Gemeinde. Die Reihe mit bedächtig swingenden Melodien im katholischen Gotteshaus wurde im Vorjahr begonnen mit Jason Moran, der heuer im BIX gastierte, und gewünscht ist eine Fortsetzung.
Ein Dauerbrenner der Jazzopen auf dem ansonsten als Parkplatz dienenden Ehrenhof des Neuen Schlosses ist übrigens der hochsportliche Flügel-Stürmer, Vokalakrobat und Trommelwirbler Jamie Cullum, diesmal mit einheimischem Gospel-Chor im Rücken. Des leidenschaftlichen Brexit-Gegner-Briten nun sechster Auftritt in Stuttgarts allerbester Freiluftstube ist für 2019 bereits beschlossene Sache.
Auf mehrere Konzerte bei diesen Juli-Festtagen kann auch der samtweiche Sänger Gregory Porter zurückblicken. Nach BIX, Mercedes-Benz-Museum und Schlossplatz performte er jetzt erstmals im Arkadenhof des Alten Schlosses. Tausend Zuschauer fasst die seit 2017 ins Festival integrierte historische Stätte. Und diese war ausverkauft, als sich Pat Metheny mit neuem Quartett präsentierte. Der Gitarrist mit stetem Ringelstreifenpulli als äußerlichem Markenzeichen war bereits 1994 bei der Premiere von „Jazzopen Stuttgart“ im Saale dabei – seinerzeit unter anderen mit seinem Instrumentalkollegen John Scofield.
Nach einer Solo-Introduktion auf seiner 42-saitigen „Pikasso Manzer Guitar“ rekapitulierte Metheny musikalisch sein intensives Künstlerleben und ließ es auch vehement rocken. Genüssliche Balladen sorgten immer wieder für entspannte Ruhepunkte. Bemerkenswert die 1984 in Malaysia geborene australische Bassistin Linda May Han Oh. Mit ihr kommunizierte Metheny innig, auf verbale Publikumsanmache verzichtete Metheny wohltuend. Zwei Tage zuvor agierte virtuos an gleicher Stelle direkt vor dem Eingang zur Schlosskapelle und neben dem protzigen Reiterstandbild von Graf Eberhard im Barte, dem ersten Herzog von Württemberg, kein Geringerer als der versierte Tieftöner Stanley Clarke.
Während Christian McBride in der früheren Schalterhalle der sponsernden Sparda-Bank die dicken Saiten traktierte, fiel Marcus Miller im fernen „Scala“-Theater von Ludwigsburg nicht nur durch Lautstärke auf. Der ehemalige Miles-Davis-Bassist, der kurz vor Ostern 1991 in den dortigen Bauer-Studios mit dem altersschwachen Trompetenstar eine nie zur Veröffentlichung gelangte Platte einspielte, brachte Jazz-Fachleute ins Schwärmen. „Grandios“, „knackig“ und „Musik auf der Höhe der Zeit“ waren hier die Stichworte, und sein Trompeter Russell Gunn sei unüberhörbar auf den Spuren vom „schwarzen Prinzen“ gewandelt.
Selbst die weltweit arrivierten Jazzmusiker, die bei dem Veranstaltungsmarathon mit ihren Ensembles sonst noch konzertierten, kann man in diesem kurzen Bericht kaum alle aufzählen: Die Trompeter Till Brönner und Thomas Siffling, die Pianisten Michael Wollny, Ira Rantalu und David Helbock, die Vokalistinnen Indra Rios-Moore und Twana Rhodes, die Saxophonisten Chico Freeman und Marius Neset – um nur einige zu nennen. Unorthodoxe Sounds und Rhythmen brachte so manche Newcomer-Formation ins Spiel, zuweilen im vorpubertären Habitus – da wollen wir Namen vorerst lieber verschweigen. Bei den Youngsters hörte man aber zuweilen auch eine recht konservative Musikauffassung heraus – teilweise nachzuprüfen, wie bereits erwähnt, in der online-Mediathek von jazzopen.com.
Den gediegenen Auftakt zum pompösen Jazzopen-Festival vollführte wieder die feierliche Verleihung der nun mit insgesamt 20 000 Euro dotierten „German Jazz Trophy“ für das Lebenswerk. Die von Otto-Herbert Hajek geschaffene Skulptur ging – in doppelter Ausfertigung – an Rolf und Joachim Kühn. Die beiden Brüder wuchsen in Leipzig auf – wie der immer noch dort ansässige Dr. Bert Noglik, der eine überaus kompetente Laudatio hielt, herzlich und analytisch zugleich. Unverkennbar die eigentlich konventionell gebliebene „plastische“ Tonbildung und die bebopige Phrasierung des inzwischen 88jährigen Bläsers Rolf Kühn, stilistisch umfassend die Aktionsbreite des Tastenmannes Joachim, Jahrgang 1944. Neugierde bestimmt nach wie vor das Künstlertum der jung gebliebenen alten Herren mit Wohnsitzen in Berlin und Ibiza.
Info: Das SWR Fernsehen zeigt am 18. August 2018 um 22.35 Uhr in einer 90-minütigen Festivaldokumentation die Highlights der diesjährigen Jazzopen.
Text und Fotografie von Hans Kumpf – Kumpfs Kolumnen