Über den swingenden Tellerrand hinaus
„Jazz pur“ titelte eine Tageszeitung auf der Voralb ihren Vorbericht zum diesjährigen Jazz-Art-Festival in Schwäbisch Hall. Aber dieses Prädikat traf auf die fünf vorösterlichen Tage mit insgesamt neun Konzerten nur teilweise zu.
Stephan Micus, 1953 in Stuttgart geboren, ist ein Individual-Globetrotter und Weltmusiksammler, den besonders Asien und Afrika interessiert. In der barocken Hospitalkirche meditierte der ECM-Künstler im Lotussitz nun auf diversen handlichen Kleininstrumenten ohne „swing“ und „drive“. Ein CD-Player sorgte für klangliche Erweiterungen.
Auch keinen eigentlichen Jazz, aber mehr Vitalität brachten die beiden jungen Iranerinnen des Naqsh-Duos ein. Faszinierend, wie Golfam Khayam ihrer Gitarre arabische Oud-Klänge entlockte und wie delikat die Klarinettistin Mona Matbou Riahi in ihre Instrumente (B- und A-Klarinette im Boehm-System) hauchte.
Über alle Genre-Grenzen hinweg agierte zudem der ungarische Gitarren-Virtuose Ferenc Snétberger in der kammermusikalischen Sonntagsmatinée, die extern traditionell in der Kunsthalle Würth abgehalten wurde. Besinnliche Musik – resonierende Sitar-Sounds und Johann Sebastian Bach eingeschlossen.
Das deutsch-türkische Trio FisFüz war schon oft in Schwäbisch Hall zu erleben: Die Klarinettistin Annette Maye, der Perkussionist Murat Coskun und der Saitenspieler Gürkan Balkan (Gitarre, Oud, Gesang) kooperieren seit zwanzig Jahren miteinander und lieferten nun eine spannungsreiche Reminiszenz ihres Konglomerats von mediterraner Musik ab.
Der umtriebige Stimmakrobat Andreas Schaerer aus der Schweiz ist mit seiner frechen Formation „Hildegard lernt fliegen“ bekanntlich gängiger Popmusik nicht abhold. Er machte aus einem Konzertabend eine theatralische Show und beeindruckte mit seinen variantenreichen Vokalkünsten.
Begonnen hatte das Festival mit Herbert Joos. Nach einer Vernissage in der Goethe-Mensa mit acht (alsbald verkauften) Bleistiftzeichnungen (Miles Davis, Chet Baker, Thelonious Monk, Jimmy Giuffre) ging es nebenan in der Hospitalkirche vergnüglich tönend weiter. Doppelbegabung Joos kommunizierte hierbei mit dem flinken Pianisten Patrick Bebelaar (herausragend seine rasante Version von Jobims „How Insensitive“!), dessen langjährigem Partner Frank Kroll (klanglich zur nordindischen Shenai umfunktioniertes Sopransaxophon und knorrige Bassklarinette) und dem gewitzten Dresdener Drummer Günter „Baby“ Sommer. Als Zugabe ließen die liberalen Avantgardisten stilübergreifend einen deftigen Twelve-Bar-Blues erschallen.
Beim ausverkauften Samstagabendkonzert beschränkte sich der (wie Herbert Joos) 77-jährige Trompeter Enrico Rava auf das zunächst eigentlich weich klingende Flügelhorn. Die Musik sprühte und funkte, und Gitarrist Francesco Diodati überzeugte als zweiter Hauptakteur des ohne Noten und mit vielen Improvisationen und Interaktionen aufspielenden Quartetts. Verzerrte und aufheulende Elektro-Sounds wie von Jimi Hendrix vereinten sich da gekonnt mit lyrischen Bläser-Phrasen im Gestus der Cool-Legende Chet Baker. Von Funktionsharmonik über den Bezug auf modale Skalen bis zum Free Jazz reichte die Spannweite der musikalischen Ausdrucksmittel. Komplexe Klanggebilde im Sinne von Neuer Musik und dann wieder kräftige Rockrhythmen bildeten eine stimmige Einheit. Besonders zum Schluss des umjubelten Konzerts legten sich der Kontrabassist Gabriele Evangelista und der Drummer Enrico Morello ordentlich ins Zeug.
Jochen Feucht gerät in der Jazzszene zur Ausnahmeerscheinung, wenn er zum „klassischen“ Bassetthorn greift und auf der Tenor-Klarinette in F mit einem samtweichen Ton glänzt. Außerdem bläst der 1968 in Biberach/Riss geborene Feucht das Sopransaxophon, mit dem er ebenfalls gerne lieblich agiert. Nebenbei bringt er noch dezent ein paar kleine Klingelglöckchen und eine Mini-Trommel zum perkussiven Einsatz.
Der Duo-Bandname „Kayu“ stammt aus dem Indonesischen und heißt Holz. Karoline „Karo“ Höfler konzentriert sich auf den wuchtigen Kontrabass und besticht rein akustisch mit voluminösem Sound, wobei sie elegant, besonnen und recht „sanglich“ vorgeht. Bemerkenswert ist ihr Sinn für das Nachspüren des reichhaltigen Obertonspektrums ihres schwarzbraunen Korpussaiters.
Schon beim üblichen Opener „Welcome“, einer Komposition Feuchts, faszinierte Karo Höfler zupfend mehrstimmig mittels klar gesetzter Doppelgriffe, während Jochen Feuchts Sopran fröhlich, keck und tänzelnd korrespondierte. Neben zahlreichen Eigenkompositionen übernahm das „Duo Kayu“ als inspirierenden Ausgangspunkt für seine ausgedehnten Improvisationen auch Fremdmaterial der beiden Bassisten Charlie Haden und Henri Texier sowie des brasilianischen Gitarristen Egberto Gismonti.
Mit dem Trio des schwedischen Pianisten Jocob Karlzon fand die 2017er-Ausgabe des Haller Jazz-Art-Festivalsihr fulminantes Ende. Erneut war in der Hospitalkirche aus skandinavischen Landen eine selbstbewusste Musik zu hören, nicht unbedingt Jazz in „Reinkultur“. Dem schwedische Pianist Jacob Karlzon stand jetzt der dänische Bassist Morten Ramsbøl zur Verfügung. Regulärer Schlagwerker des Ensenbles blieb der in Istanbul geborene und in Stockholm aufgewachsene Robert Mehmet Sinan Ikiz.
Als einziges Tasteninstrument stand Karlzon der vorhandene Steinway zur Verfügung. Etwaige (sperrige) Synthesizer-Keyboards nahm er vom hohen Norden nicht mit auf die Flugreise gen Süden. So stammten jetzt die elektronischen Plüschklangteppiche nach feierlichem Orgelhymnus von einem Laptop, welchen der umtriebige Klavierspieler mittels dreier Extra-Pedale ansteuerte – darob hatte Jocob Karlzon stets beide Hände frei für den Flügel. Diesen bediente er mehrmals ganz solistisch bei lyrischen Impressionismen so, als seien es Kompositionen von Claude Debussy. Da erinnerte der Virtuose außerdem mit polyphonem Geflecht und im Wohlfühlmodus an Keith Jarrett und Esbjörn Svensson.
Ansonsten scheute Jocob Karlzon vor kantigem Rock und zeitgeistigem Dance-Pop nicht zurück. Hier konnte es richtig laut werden und mächtig krachen. Merklich ganz außer Atem war nach dem Opener „Higher“, bei dem sich die Gruppe stürmisch und ekstatisch nach oben schraubte, der Kontrabassist Morten Ramsbøl.
Das Stück Monster widmete der Schwede Karlzon in seiner englischsprachigen Ansage ausdrücklich Donald Trump. Ärger überkomme ihn, wenn er daran denke – an den US-amerikanischen Präsidenten und beim Musizieren. Ein irrwitziges Tempo wurde bei dieser skurrilen Art einer „Dedication“ vorgelegt, wie eine alles zerstörende Dampfwalze erschreckte der Rhythmus; aus dem digitalen Off ertönten mysteriöse Flötenklänge. Knallhart traktierte Mehmet Ikiz derweil sein Drumset.
Ikiz konnte anschließend auf der nun in Blaulicht getauchten Bühne auch anders: Bei einer ausgedehnten Soloimprovisation mit einem Tamburin demonstrierte er elegant, welche Klangnuancen aus einer simplen Rahmentrommel herauszuholen sind. Ein wahrer orientalischer Geschichtenerzähler.
Veranstaltet wurde das erfolgreich verlaufene 11. Jazz-Art-Festival vereint vom städtischen Kulturbüro, dem örtlichen Jazzclub, dem Konzertkreis Triangel sowie dem neben und über (!) der Hospitalkirche ansässigen Goethe-Institut. Im Vorfeld des fünftägigen Festivalkerns wurden – wie gewohnt – einige „Plus“-Veranstaltungen eingeplant, beispielsweise im Kino (Spielfilm “Miles Ahead“) oder eine mitternächtliche DJ-Dancejazzparty.
Text und Fotografie von Hans Kumpf – Kumpfs Kolumnen