Guter Jazz lebt manchmal von der Raffinesse des Einfachen, wie im Klarinettenspiel von Don Byron. Er pflegt den reinen Ton nach klassischem Vorbild mit der klanglichen Kultivierung des Widersprüchlichen. Und so warnt der 46-Jährige zum Beginn seines Konzertes in der Rüsselsheimer Jazzfabrik, dass er stets an seine Frau (und seine kleine Katze) denke, um nicht zynisch zu werden angesichts des „sentimentalen“ Spiels.
Es lohnt sich, dieser oberflächlich geschmeidigen und geglätteten Spielweise mit weit geöffneten Ohren zuzuhören – jenen überraschenden Verfärbungen, den harmonisch abweichenden Verzierungen, den zahlreichen eigenwillig verfremdeten Zitaten aus Klassik und klassischem Jazz sowie den Klezmer-Einsprengseln. Selbst schier endlose auf- und absteigende Linien auf der Klarinette, singhaft und leicht angeraut wirken nie langweilig. Unterstrichen wird diese Stimmung von dunklen Trommelwirbeln sowie sanfter Besenarbeit des Schlagzeugers sowie einer ostinaten Bassgrundiereung auf dem Piano. Respektvoll und zugleich herausfordernd ist der Umgang mit den Standards, die das „Ivey-Divey“-Trio mit dem Pianisten Jason Moran und dem Schlagzeuger Billy Hart neben Don Byron pflegt. „I want to be happy“, „Somebody loves me”, “I´ve found a new baby” oder “In a silent way” sind an diesem Abend zu hören. Plötzlich ist nach den Akkordgriffen der linken und den rasenden Tontrauben der rechten Hand des Pianisten sowie dem in den höchsten Tonlagen überblasenen, eruptiven Tenorsaxophon und pulsierendes Free-Kollektiv des Trios von ungeheurer Dichte und Komplexität zu hören, bevor Byron, Maron und Hart wieder zu Metrum und Melodiosität zurückkehren. Mit John Coltranes „Naima“ ist das Trio förmlich explodiert.
Organisch fließen in der Musik, die, wie „Ivey-Divey“ assoziiert, Lester „Pres“ Young gewidmet ist, Swing und Cool, Avantgarde und Klassik sowie Ethno ineinander. Don Byron sitzt fast die gesamten 100 Minuten in sich versunken, die Augen geschlossen und konzentriert der Musik lauschend, auf seinem Hocker, die Klarinette oder das Saxophon traumwandlerisch sicher blasend – ein Intellektueller, der aus dem Bauch heraus spielt. Für Jason Maron gilt das Gleiche, auch wenn sein Spiel extrovertierter wirkt: Klare Linien, Kontraste und Räumlichkeit kennzeichnen die Musikauffassung des Künstlers, der die architektonischen Strukturen eines Walter Gropius oder Mies van der Rohe bewundert. Filigrane Linien und Cluster wechseln sich ab, die Läufe sind an manchen Punkten dicht und intensiv, an anderen wiederum sparsam und transparent. Dazu trommelt Billy Hart mit virtuoser Präzision und sensibler Flexibilität auf Fellen und Becken, wirkt selbst in einem ausgedehnten Solo trotz innerer Kraft eher zurückhaltend.
Es ist ein spannendes Konzert, das dennoch beim Zuhörer Spannungen abbaut, das dank der ironischen Betrachtung der Tradition und aufgrund der Virtuosität der drei Musiker sowie ihres souveränen Umgangs mit dem Material nie den Grat zur peinlichen Sentimentalität überschreitet.