Christian Muthspiel / Interview und alle Fotografien: schindelbeck
Christian Muthspiel
im Interview mit Frank Schindelbeck
Die Aktuelle CD „May“ von Christian Muthspiel beschäftigt sich mit “Jodel-Musik” im Jazz-Kontext. Die Aufnahme wurde im Rahmen des Jazzfestivals Saalfelden 2010 vorgestellt, was passend war, denn erstmals wurde das Programm der CD im Jahr 2009 für das Festival erarbeitet und sollte ursprünglich auch als Live-Mitschnitt veröffentlicht werden. Aufgrund eines technischen Defekts war die Aufnahme letztlich nicht verwendbar und so entstand die CD letztendlich zu einem späteren Zeitpunkt in einem Studio in New York. Am Rande des Jazzfestivals Saalfelden konnte ich mit Christian Muthspiel über sein Projekt und die neue CD sprechen.
Was erwartet uns musikalisch auf der neuen CD „May“ von Christian Muthspiel’s Yodel Group?
Die grundlegenden Stücke der CD sind alte alpenländische Jodler, die ich seit meiner frühesten Kindheit kenne, weil die bei uns zuhause gesungen wurden. Es gab das Ritual, wenn man einen Berg besteigt und auf dem Gipfel singt man einen Jodler.
Das Basismaterial für diese Einspielung sind Jodler, Songs ohne Texte, die nur aus Jodel-Silben bestehen. Meistens sind das sehr langsame dreistimmige Stücke, die sehr raffiniert und zugleich einfach aufgebaut sind und mir immer wieder vorkommen, wie eine ganz alte, archaische Form der Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Natur. Es geht bei den Stücken von „May“ weniger um die Technik des Jodelns als vielmehr um die Lieder.
„May“ – also „Mai“ auf Englisch – weil Mai der erste Monat im Jahr ist, in dem man wieder auf die Alm geht, wo man nach der Winterpause zum ersten mal wieder jodelt – das ist sozusagen der Ausdruck der Freude über den vergangenen Winter.
Täusche ich mich oder ist es so, dass Jodler häufig auch einen sakralen Charakter haben?
Für mich haben sie absolut etwas religiöses – konfessionslos Religiöses – Transzendentes. Es ist auf alle Fälle dieses nach oben in den Himmel Singen, beziehungsweise am Berg zu stehen und ins Tal zu singen. Ein Ausdruck dieses Gefühls, sich verbinden zu wollen mit der Natur oder diesen Bergen und der Energie, die herrscht …und auch vielleicht, diesen Atem ein bisschen zurück zu geben: Man atmet ja etwas ein und man kann dann vielleicht das, was man eingeatmet hat metaphorisch wieder zurück geben. In Form eines Singens oder des Jodelns und das geht ja eigentlich bis ins Schreien. Die alten Leute, die das noch wirklich authentisch können – bei denen ist das ja eine ganz urtümliche Art, die zwischen Singen, Schreien, Krächzen, Juchzern und Rufen liegt – teilweise fast wie Tierlaute. Und es gibt auch noch Leute, die ihre Tiere so rufen, da hat man wirklich das Gefühl, man könnte irgendwo mitten in Afrika sein wenn man das hört.
Was für eine tolle Musik! Die müsste man eigentlich im Freien spielen – das würde wunderbar passen, wenn es auf einer dieser Almen hier rund um Saalfelden gespielt würde. Verliert das nicht sogar ein wenig, wenn man diese Musik auf eine CD presst oder sie in mehr oder weniger dunkle Jazzclubs zieht?
Ich empfinde, dass das Original ins Freie gehört, nachdem ich aber diesen Jodlern schon eine relativ weite ästhetische Reise auferlegt habe, weg von dem Berg, hin zu dem europäisch-amerikanischen zeitgenössischen Jazzkontext, ist für mich – auch was das Instrumentarium betrifft – der Schritt vom Berg in den urbanen Raum vollzogen. Auch mit der Technologie, also dem zum Teil elektronischen Instrumentarium, dem Schlagzeug, dem E-Bass. Es gibt allerdings schon den Plan das Projekt im nächsten Jahr auf einer Bühne zu spielen, die 2000 Meter hoch liegt. Aber das Transferieren ist schon vorher passiert, nicht nur in eine andere Ästhetik, sondern auch in ein anderes, urbanes–städtisches Umfeld.
Diese Jodelplatte ist in New York aufgenommen worden, die Rhythmusgruppe kommt aus New York und das ist exemplarisch dafür, dass ich versucht habe zwei Dinge, also zwei Seelen, die in meiner Brust gleichberechtigt wohnen, zu verbinden.
Würde ich den Advocatus Diaboli spielen, dann würde ich sagen: „Was tut der Muthspiel diesen altehrwürdigen Weisen eigentlich an?“ Auf der Platte finden sich Stücke, da geht es sehr ins Freie, es geht in Jam-Sessions über und durchaus auch ins sehr elektronische. Passagen, bei denen der zugrunde liegende Jodler sozusagen fragmentiert wird. Gibt es dazu schon Feedback von Menschen, die aus dieser traditionellen Jodel-„Szene“ aber auch dem Jazzbereich stammen – wie stehen die jeweils dazu, Volksmusik auf diese Art zu verarbeiten?
Feedback gibt es natürlich vieles, auch weil dieses Projekt hier in Saalfelden schon live aufgeführt wurde und in einem weiteren Konzert in Österreich. Im März haben wir zweimal in New York gespielt und auch die Platte aufgenommen. Mein Ansatz, und auch meine Behutsamkeit war es, weder den Jodlern noch dem Jazz etwas weg zu nehmen. Sondern zu versuchen, beiden ihre Kraft zu lassen indem diese klaren Melodien bleiben, ziemlich unbearbeitet bleiben.
Vielleicht könnte man es damit vergleichen: Wenn man eine Skulptur in ein anderes Licht taucht, bleibt sie die selbe Skulptur aber sie steht vielleicht einmal auf einem Platz im Freien und einmal in einem extrem beleuchteten asymmetrischen Raum. So empfinde ich das. Volksmusik ist ja immer eine Musik gewesen, die sich permanent entwickelt. Und zu sagen „Was ist die authentische Volksmusik?“ ist nichts anderes als der Versuch, irgendeine Jahreszahl festzumachen, wo man sagt: Stopp, jetzt dürft ihr euch nicht mehr entwickeln. Im Jazz ist das ja dauernd passiert.
Miles Davis wurde mit jeder neuen Ästhetik die er eingeschlagen hat, vorgeworfen: „So, jetzt geht’s aber nimmer!“ Ganz anders wäre es bei einer fix notierten Musik, bei der es eine fertige Partitur gibt und man nur mehr über die Art der Interpretation streiten kann – was natürlich einen ganz anderen Kosmos an Vorgaben und Parametern gibt, die auf eine stilgerechte Interpretation hin deuten.
In diesem Fall ist es aber so, dass die Jodler für mich ja viel früher da waren als der Jazz. Den Jazz habe ich erst entdeckt als 17, 18-jähriger, die Jodler habe ich quasi seit meiner Geburt, sind die einfach da gewesen. Insofern habe ich mir eher den Jazz aneignen müssen als die Jodler, und habe jetzt, viele Jahre später, sozusagen eine Kurve geschlagen, zurück zu den Jodlern. Ich will mich mit dem Projekt also weder darüber lustig machen, noch sie zerstören, sondern ich möchte sie in das Umfeld des Jazz und der improvisierten Musik überführen und sozusagen – jetzt fällt mir gerade auch das Wort „Verführen“ ein: vielleicht auch Leute dazu verführen vom jeweils anderen Genre sich ohne Vorurteile die Gegenseite an zu hören.
Wenn man sich beispielsweise eine einfache Blues Komposition anhört, dann hat die wahnsinnig viel zu tun mit Jodlern. Jodler sind fast immer 1., 4., 5. Stufe oder eigentlich ausschließlich, fangen oft mit der zweiten Stimme an, dann kommt eine Unterstimme, eine Überstimme und dann erst der Bass, der hat oft eine ganz interessante, raffinierte Kontrapunktik, ist aber doch in der Struktur ganz einfach. Und sind meist auch 8, 12-taktige Formen – also die Jodler sind dem Blues sehr nahe und eigentlich kann man daraus sagen die Jodler sind auch Formen des Jazz sehr nahe, die sich aus dem Blues entwickelt haben. Für mich ist das viel weniger weit entfernt voneinander als wenn ich beispielsweise ein Stück der Romantik in die Ästhetik des Jazz überführen würde.
Interessant in diesem Zusammenhang : Wie haben denn die Mitmusiker reagiert? Die stammen zum Teil ja nicht gerade aus dem Alpenraum, sondern aus New York. Wie sind die mit dem Material umgegangen, wie war deren Zugang zu den Jodlern?
Das war ganz unproblematisch und das habe ich vorausgesehen, eigentlich vor der ersten Probe. Erst einmal habe ich mir mein „Dream-Team“ zusammen gestellt, für diese Band und zweitens war es mir klar, eben aufgrund dessen, was ich vorher über den Blues gesagt habe und über diese universelle einfache Musiksprache, die es überall auf der Welt gibt. Es gibt Formen von Jodlern auch in Tibet und in den Anden und in vielen Teilen der Welt, wo es Berge gibt.
Es ist was ganz schönes passiert. Bei der erste Probe beginnen wir dreistimmig, die drei Bläser mit diesem wunderschönen Mai-Jodler und dann im achten Takt sollte der Franck Tortillier einsetzen und er beginnt einfach nicht zu spielen, weil er so ergriffen war von der Melodie. Er konnte einfach nicht spielen. Und das Material ist so stark – nicht meines, sondern das Jodelmaterial – dass sofort für alle „das Buch aufgeschlagen war“. Man muss nichts erklären, es ist eine Frage von Musikalität und dann funktioniert es…
Ich glaube nicht, dass wir weniger geprobt hätten oder, dass es besser funktioniert hätte, wenn wir in dieser Besetzung Jazzstandards gespielt hätten. Natürlich sind meine Arrangement zum Teil relativ ausgearbeitet und es gibt auch ziemlich viel Notenmaterial. Das mache ich aber in praktisch all meinen Projekten weil es mich auch interessiert, gerade dieses: „Wo ist die Grenze?“, „Wie viel Material ist dramaturgisch dienlich?“, „Wo ist die Grenze zur Überfrachtung?“ – das sind Fragen, die man sich immer neu stellt. Aber jetzt sozusagen, das Gefühl gehabt zu haben, dass das für irgendjemanden eine fremde Sprache wäre, das hat überhaupt nicht stattgefunden.
So kommt es auch auf der Platte herüber…
Ich habe auch das Gefühl, dass es sehr natürlich klingt. Das Gefühl ist… man könnte genauso gut einen Blues spielen aber es ist halt ein alpenländischer Jodler.
Mir scheint, dass es gerade in den südlichen Bereichen, Süddeutschland, in Österreich relativ häufig Verbindungen volkstümlicher Musik mit Jazz gibt.
…in der Schweiz auch…
…ich denke da an die Strottern mit den Musikern der Jazzwerkstatt Wien, an Projekte wie „Alpine Aspects“ von Wolfgang Puschnig. Ist das Volksliedgut aus dem Süddeutschen Sprachraum für solche Symbiosen besonders geeignet?
Ich glaube, ehrlich gesagt, dass es damit zusammen hängt – und ich hoffe, ich sage jetzt nichts Falsches – dass in diesen Regionen die Volksmusik einfach gespielt wird. Ich weiß nicht, wie oft im Norden in Norddeutschland, ob es da in jedem Dorf drei, vier Volksmusikgruppen gibt und Blaskapellen, die jeden Sonntag spielen und Hausmusik. Das ist bei uns sehr lebendig. Das ist auch in der Schweiz und im bayerischen Raum sehr lebendig. Und das hat sich die junge Generation immer wieder auch zu Eigen gemacht. In den Wiener Orchestern, das Blech, die ersten Posaunisten, Trompeter und Hornisten, die kommen alle aus Blaskapellen in Oberösterreich. Bei den Philharmonikern, bei den Symphonikern, in der Volksoper im Radiosymphonieorchester – das ist ein Riesenpool an Musikern, die eigentlich alle groß geworden sind mit Volksmusik und Blasmusik.
Heißt das, Volksmusik in Österreich hat auch weniger einen solchen Musikantenstadel-Charakter?
Es gibt in Österreich zumindest beides. Natürlich gibt es diese riesige Musikantenstadel-Szene, die ja eine wahnsinnige Cash-Cow ist, das werden Riesenumsätze gemacht. Es gibt die Zillertaler Schürzenjäger, die spielen vor 60.000 Leuten aber es gibt eine ganz große Szene, die mit denen nichts zu tun haben will oder die sich – Gott sei Dank – auch gar nicht kümmert um diese Grenzen, sondern, die einfach Volksmusik machen, wie man sie immer gemacht hat, nämlich als Gebrauchsmusik.
Und das ist ein großer Unterschied! Die spielen bei einer Hochzeit, die spielen bei einer Taufe, die spielen bei einer Beerdigung, die spielen am Sonntag, die spielen beim Frühschoppen nach der Kirche – die Blasmusik begeht die ganzen sowohl kirchlichen als auch profanen Feste, das heißt, wenn es eine Zusammenkunft von Menschen gibt, die über den Alltag hinaus geht, wenn etwas besonderes passiert ist, dann wird das mit Musik gestaltet oder Musik gehört unbedingt dazu. Und da spielt die Volksmusik eine wesentliche Rolle. Ich glaube also, dass eher das der Grund ist: weil es diese Szene einfach gibt. Von meinen ungefähr gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen in Österreich in der Szene der improvisierten Musik, des Jazz, sind mindestens zwei Drittel mit Volksmusik groß geworden oder sind hautnah damit in Berührung gewesen.
So gesehen ist da der Konnex zum Jazz da. Musik als Lebensmittelpunkt und Geschichten vom Leben in der Musik?
Ja, Ich denke auf alle Fälle. Ich glaube, dass man eben nicht sagen kann, dass sich speziell die Stücke des Alpenraums so gut eignen, sondern dass dieses Phänomen überall dort passiert, wo es eine – oder noch eine – lebendige Szene von Volksmusik gibt, die natürlich Gott sei Dank auch zu einem großen Teil Amateurmusik ist. Das ist ganz wichtig. Diese Erfahrungen, die Menschen machen, mit der lebendigen Musik… Wenn ich jetzt denke, dass wir zuhause wie ich 5, 6 Jahre alt war – da haben wir astrein vierstimmig gesungen und zwar hunderte Lieder. Hunderte! Für jede Jahreszeit. Im Advent war das ganze Weihnachtsrepertoire und wir haben auf den Gipfeln Jodler gesungen und so weiter. Das heißt, ich habe mit fünf, sechs Jahren, ohne, dass ich einmal daran gedacht hätte, ich lerne etwas, die Erfahrung gemacht, eine erste Stimme zu singen, eine zweite Stimme zu singen, eine dritte Stimme zu singen, die Stimmen im Kontext zu den anderen Stimmen zu erkennen, zu halten, kleine Variationen einzubauen – das ist wie mehrsprachig aufwachsen. Die lernen keine Sprache aber können sie. Und da hat natürlich kein IPod eine Chance dagegen. Das ist ganz klar.
Ich bin ein vehementer Vertreter davon dieses Biotop zu schützen, wo es nur geht, und anzuregen: Lasst die Kinder musizieren. Und zwar nicht nur so, dass man sagt: „so jetzt lernst du das Instrument und dann passiert des und des und des…“ sondern lebendige Musik machen … Volksmusik spielen hat etwas sehr experimentelles, ist sehr verwandt zum Jazz. Es gibt keine ausgeschriebene zweite, dritte, vierte Stimme – die ist teilimprovisiert. Es gibt einen harmonischen Verlauf, auch die Tempi, die Wiederholungen, auch im Text wird improvisiert – diese Gstanzln die man singt, da werden die Texte ad hoc improvisiert auf die Situation, die gerade passiert. Also, das ist ein sehr kreativer, spielerischer, eigentlich leichter Umgang.
Außer bei dieser Fraktion, die natürlich ganz stark das „Bewahrende“ betont und eigentlich als Chiffre für die Heimat missbraucht, aus meiner Sicht. Das kommt schon noch dazu. Es gibt auch große Berührungsängste, weil die Volksmusik natürlich extrem missbraucht worden ist, von den Nationalsozialisten und es gibt noch immer eine starke rechte Szene in dieser sogenannten „authentischen Volksmusikszene“. Es gibt dieses Volkstümliche, diese eigenartig heimattümelnde Szene aber es gibt auch eine große Szene, die durchaus zum Teil jung ist, die wirklich genießt, dass es diesen Schatz an Volksmusik gibt.
Das heißt, wenn man diesen Teil der Volksmusik hegt und pflegt, dann zieht man sich auch die Jazzmusiker und Jazzhörer der Zukunft heran…
Eigentlich schon. Und nicht nur die Jazz, auch die Klassikhörer – sozusagen einfach Menschen, die auf eine Art und Weise Musik erfahren haben, die ihnen wahrscheinlich auf eine Art vermittelt, dass sie Musik nicht mehr missen wollen, in ihrem Leben und zwar Musik, die kommuniziert mit ihnen, die auch veränderbar ist und die – das ist ja auch in der klassischen Musik das wunderbare – ich habe oft das Gefühl, wenn klassische Musik gut interpretiert ist, die Musik entstünde jetzt. Das ist für mich ein Kriterium einer guten Interpretation. Das ist für mich noch lange nicht abgeschlossen, für mich ist auch Brahms noch nicht abgeschlossen, das lebt immer weiter. Und bei der Volksmusik geht das natürlich noch einen Schritt weiter und beim Jazz, weil man wirklich eingreift und neues Material schafft. Insofern ist die Transferierung der Jodler in diesen Jazzkontext für mich ein ganz normaler, fast schon logischer Schritt. Also, ich habe jetzt überhaupt keine Bedenken Richtung Blasphemie oder, dass ich das irgendetwas mache, was man nicht machen darf. Wo steht geschrieben, wer die Bewahrer der echten Volksmusik sind?
Ein perfektes Schlusswort, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.
CD:
Christian Muthspiel´s Yodel Group: May
material records MRE 031-2
Christian Muthspiel, tb, p, voc, vocoder, loops
Gerald Preinfalk, cl, bcl, ss, as
Matthieu Michel, tp, flgh
Franck Tortiller, vib
Brad Jones, eb
Bobby Previte, dr
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