Von Augenhöhe und Teilhabe: Das Moers Festival 2025

Ein Festival sucht die Stille – und findet den Lärm der Welt

Das Moers Festival 2025 wagte ein Paradox: „Stille“ als Motto für ein Musikfestival mit Caspar Brötzmann, Taiko-Trommeln und Big Band. Sogar Politiker reagierten verwirrt, wie Bürgermeister Fleischhauer berichtete: „Was habt ihr denn für einen Titel? Stille. Da guckt er mich an, Moment Pause, und sagt: nee, komm jetzt mal im ernst…“

Doch genau dieser Widerspruch war programmatisch. In Zeiten von Budgetkürzungen, Kriegen und Festivalsterben fragte sich Festivalleiter Tim Isfort: Wo finden wir überhaupt noch Stille? Die Antwort suchte das Festival in der Musik selbst, aber auch in der beunruhigenden gesellschaftlichen Stille angesichts globaler Krisen.

Kompakter, aber mit Verlusten: Die neue Festivalstruktur

Die Rückkehr zu einer kompakteren Festivalstruktur brachte sowohl Gewinn als auch Verlust mit sich. Nach den Corona-bedingten Erweiterungen auf Rodelberg, Musikschule und Gymnasium konzentrierte sich das Festival wieder auf die bewährte Kombination aus Enni-Halle und unmittelbarem Umfeld. Der legendäre Rodelberg ist Geschichte, an seine Stelle trat die neue Spielstätte „Unter den Bäumen“ auf dem Freibadgelände mit angrenzender Workshop-Wiese „Wo die wilden Kinder wohnen“.

Diese Entscheidung erwies sich als Glücksgriff: Die charakteristische Nähe zwischen Publikum und Künstlern, für die Moers berühmt ist, kam wieder voll zur Geltung. Auch in der Enni-Halle: Bei welchem anderen Jazzfestival kann man sich rund um die Hauptbühne sein Plätzchen suchen, im Sitzsack auf kurze Distanz die Schweißperlen auf Musikantenschädeln zählen und auch den letzten gehauchten Ton erlauschen?

Trotzdem ging mit der Konzentration auch Wesentliches verloren. Die Reihe Annex, in den Vorjahren im charakteristischen Hof der Musikschule beheimatet, konnte auf der asphaltierten Fläche vor der Halle nicht adäquat ersetzt werden. Der Rundherum-Charme mit den überdachten Gängen, dem spontanen und selbstbestimmten Musikersession und sogar die tapfer Waffeln und Kaffee produzierenden Abiturienten fehlten. Dem vom Konzept her gleich angelegten „Freysinn“-Ersatz fehlte dieses Flair und Jean-Hervé Péron als musikalischer Hausmeister sowieso.

Immerhin fand das Annex-Format, jetzt als „Freysinn“ tituliert, mit Sessions über alle vier Festivaltage hinweg eine neue Heimat – von der Trecker-Bühne über verschiedene Marktplatz-Locations bis hin zur Röhre. Problematisch waren allerdings parallele Veranstaltungen, wenn 50 Meter voneinander entfernt eine Punkband und eine improvisierende E-Gitarristin gleichzeitig spielten – akustisch unmöglich.

Musikalisch spannte sich der Bogen von der spektakulären 8-stündigen Festivaleröffnung mit Terry Wey und Ulfried Staber, die Thomas Tallis‘ 40-stimmiges „Spem in Alium“ aus dem 16. Jahrhundert nur zu zweit zur Aufführung brachten, bis zu Caspar Brötzmanns einsamen Performances – solo auf dem Marktplatz und mit seiner Formation Massaker als Festivalabschluss.

Internationale Kooperationen in schwierigen Zeiten

Bemerkenswert waren die internationalen Kooperationen, auch in finanziell engeren Zeiten. Die neue Partnerschaft mit dem Huddersfield Contemporary Music Festival, finanziert durch das Goethe-Institut London und die GVL, brachte das „Experimental Encounters“-Projekt hervor und verspricht eine dreijährige Zusammenarbeit mit insgesamt 24 Konzerten. Im November folgt der Gegenbesuch in Großbritannien.

Der China-Schwerpunkt mit zehn Künstlern aus Beijing, Shanghai und sogar dem uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang zeigte faszinierende Verbindungen zwischen traditionellen chinesischen Instrumenten und hypermoderner Elektronik. In der chinesischen Kulturgeschichte entwickelten sich seit 1976 verschiedene musikästhetische Konzepte der Stille, die weniger als Gegenpol zum Lärm verstanden werden, sondern als harmonische Mitte – Stille rückt ins Zentrum der modernen Musik. Künstler wie Li Daiguo, Lao Dan, Sun Yizhou und das Duo Jun-Y Ciao & Zhu Wenbo belebten alle Festivalbereiche. Herausragend das Konzert von „Ende der Liebe“ mit Su dance110: ein hypnotischer Sounddschungel, angetrieben von Thomas Sauerborn am Schlagzeug.

Der Afrika-Schwerpunkt, dieses Jahr mit Gästen aus Rwanda brachte das außergewöhnliche Projekt URWEREKA mit vier Künstlern: Bobo Elvis (virtuoser Hip-Hop- und Bone-Breaking-Tänzer), Binghi (Meister traditioneller und moderner Tanzformen), Manzi Mbaya (Choreograf) und Natacha „Miziguruka“ Muziramakenga, die gemeinsam die Grenzen zwischen Musik und Tanz verwischten.

Experimentelles Ticketing

Mit knapp 2.000 zahlenden Besuchern und dem neuen „Pay What You Want“-Ticketsystem wagte das Festival ein bemerkenswertes Experiment. Besucher konnten den Ticketpreis aus fünf festen Kategorien selbst auswählen. 700 Early Birds und „Stille Helden“ bildeten die treue Fanbase, 700 neue Besucher nutzten die günstigen 40-Euro-Schnuppertickets, während sich 600 Tickets in den mittleren Preiskategorien bewegten. Diese Verteilung der Tickets zeigte sowohl die Loyalität der Stammbesucher als auch die Bereitschaft neuer Zielgruppen, das Festival zu entdecken. Die gelegentlichen Spendenaufrufe vor den Konzerten unterstrichen den gemeinschaftlichen Charakter des Festivals. Schade, dass andere Einnahmequellen auch einfach liegen gelassen werden: die Festival T-Shirts waren in üblichen Größen schon am zweiten Tag ausverkauft, der Verkäufer hinterm Tresen murmelte etwas von „wie letztes Jahr“…

Vielfalt der Spielorte und besondere Highlights

Die charakteristische Vielfalt der Spielorte unterstrich die dezentrale Philosophie des Festivals und den Brückenschlag zur Stadtgesellschaft: Von Kirchen (evangelische Stadtkirche, St. Josef) über ungewöhnliche urbane Räume (Skate- & Bike-Park, Haarschneiderei, Büro des Bürgermeisters) bis hin zu „Geheimkonzerten“, natürlich an geheimen Orten. Die „soft rotation“-Reihe der Kunsthochschule für Medien Köln mit 17 verschiedenen Sets über alle Festivaltage zeigte exemplarisch die Nachwuchsförderung.

Ein kleines Juwel war Maki Nagamines „Club Jazz Byobu“ – ein faltbares japanisches Teehäuschen, das als mobile Bühne für spontane Sessions diente. Diese Reproduktion des ursprünglich für Japans „JAZZ ART SENGAWA“ Festival entworfenen Theaters brachte mit Tatami-Matten und traditioneller Ästhetik eine meditative Dimension ins Festivalgeschehen.

Koshiro Hino lieferte mit zwei speziell in Auftrag gegebenen Uraufführungen bahnbrechende Momente. „Chrono Graffiti“ am Samstagabend und die Mitternachts-Performance „So-Ten-I (Phase Transition)“ am Sonntag bewegten sich zwischen strukturierter zeitgenössischer Musik und elektronischen Dimensionen und zeigten eindrucksvoll die Spannweite dieses Mastermind von GOAT, die im vergangenen Jahr schon das Publikum begeisterten.

Das Jugendprojekt „Plötzlich Still im Unimoersum“ unter der Leitung von Lukas Döhler und Leticia Carrera setzte die achtjährige Tradition fort und ließ junge Musiker gemeinsam mit internationalen Improvisatoren das Thema Festivalsterben künstlerisch bearbeiten. Die Rückkehr von Wadada Leo Smith nach 46 Jahren – im Duo mit dem Pianisten Vijay Iyer – bildete einen musikalischen und emotionalen Höhepunkt für alle, die sich noch an die Frühphase des Festivals erinnern.

Jan Klares „moers sessions“ fanden täglich „Unter Bäumen“ statt. Die von ihm kuratierten Sessions sind das kleine Festival im Festival und gehören unverzichtbar zum Profil von Moers. Mit kundiger Hand und viel Feingefühl aus dem Pool der Festivalmusiker zusammengestellt ergeben sich einige der Glanzpunkte des Festivals.

Das lebendige Geflecht: Festival-Familie und Stammgäste

Zum lebendigen Geflecht des Festivals gehören auch die gewohnten Menschen, die man seit Jahren sieht und erwartet. Der Klaus, der von Festival zu Festival zieht und immer in seinem winzigen Zelt übernachtet. Der Journalist (?) aus England, der stoisch unter seiner charakteristischen Mütze übers Gelände stapft. Johanna, die seit Jahren und vermutlich für immer als Volunteer den organisatorischen Kit des Festivals verstärkt. Und andere – hallo, Frank! – die man eh nur in Moers trifft.

Und im Programm eben auch, wie ein Festival-Myzel, die Musiker und Künstler, die praktisch immer dabei sind – eine aus dem Umfeld von The Dorf. Jan Klare eh, Achim Zepezauer, eingebunden in zahlreiche Projekte und die Organisation. Bassklarinettist Tobias Klein oder die Gitarristin Raissa Mehner, die unter anderem in einer Freysinn-Session mit Elisabeth Coudoux und Tobias Klein spielte, aber auch blauperückt punkig-rockige Töne zu den Orakeln des Blob (muss man gesehen haben) in den Raum schleuderte.

Subjektive Höhepunkte

Herausragende Konzerte zu nennen ist immer subjektiv. Spinifex Maximus mit Artist in Residence Bart Maris gehörte sicher dazu. Erweitert mit Jessica Pavone (Violine), Elisabeth Coudoux (Cello) und Evi Filippou (Vibraphon). Neue Klangnuancen, eingebettet in die gewohnte Mischung aus komponierten Strukturen und freier Improvisation.

Hayden Chisholm’s „Kinetic Chain“ mit Achim Kaufmann, Petter Eldh und Jonas Burgwinkel schlug einen großen musikalischen Bogen, geprägt von den musikalischen Erfahrungen des Neuseeländers über Jahrzehnte mit tiefgehenden Einflüssen aus seiner musikalischen Sozialisation, die von folkloristischen Anklängen bis zu komplexer freier Improvisation reichte.

„The Sleep of Reason Produces Monsters“ mit Mariam Rezaei (Turntables), Mette Rasmussen (Altsaxophon), Gabriele Mitelli (Piccolo-Trompete, Elektronik) und Lukas Koenig. Ein intensives internationales Quartett um die britische Turntablistin Mariam Rezaei, mit energetischen Bläsersounds von Gabriele Mitelli an der Trompete und Mette Rasmussen am Altsaxophon und dem superdynamischen Koenig am Schlagzeug. Mette Rasmussen zeigt sich einmal mehr als kompromisslos freigeistige Saxophonistin, von den Haar- bis zu den Zehenspitzen unter Hochspannung.

Und viele Musikerinnen und Musiker, die einem neu in den Blick rückten: Charlotte Keeffe, Kalia Vandever, Mamer, Iris Colomb, Ying Yang, su dance110, Marco Fusinato, Marcel Balboné, Anouk Neyens unter anderem in einem originellen Konzert mit Mikael Szafirowski und Rahel Boell.

Apropos Blick: die Ausstellung von Fotografenkollege Elmar Petzold war sehenswert und hätte eine etwas prominentere Hängung verdient.

Organisatorische Herausforderungen und kreative Lösungen

Wie bei jedem ambitionierten Festival gab es auch organisatorische Herausforderungen zu meistern. Die Einlasssituation in der gut besuchten Halle erforderte noch etwas Feintuning. Bei den häufigen Regenschauern wurde deutlich, dass der Platz vor der Enni-Halle noch mehr wetterresistente Aufenthaltsqualität vertragen könnte. Der experimentelle Einsatz der Hebebühnen für Musikerperformances in luftiger Höhe war ein origineller Ansatz, der akustisch noch weiter verfeinert werden muss. Der für die Besucher mögliche Blick vom 60 Meter Hubsteiger brachte am Ende nicht nur über 1.500 Euro an Spenden (für den Verein Klartext gegen Kinderarmut), sondern bot im wahrsten Sinne einen herausragenden Blick auf den „charmanten Parkplatz“ (T. Isfort) und die versiegelte Asphaltfläche vor der Veranstaltungshalle. Die Stimmung im Festivaldorf litt unterm gelegentlich kühlen und feuchten Wetter – aber auch unter der abweisenden Gestaltung dieses Platzes.

Spektakulär hingegen war der 16 Meter hohe Kasper mit riesiger Fliegenklatsche beim musikalischen Überlebenskampf „Der Kasper schlägt die Fliegen tot“ – ein gigantischer Totentanz zu Widerstand, Vielfalt und Solidarität der Snuff Puppets, der erstmals in NRW zu sehen war.

Zwischen Stille und neuen Wegen: Ein Festival im Wandel

Das Moers Festival 2025 gelang der Spagat zwischen Traditionspflege und notwendiger Weiterentwicklung. „Stille“ wurde zur Reflexion über Kulturzukunft in schwierigen Zeiten. Seit Tim Isforts Amtsantritt 2017 durchlief das Festival verschiedene Phasen: erst Stadtrückgewinnung durch Moersify, dann Pandemie, jetzt Publikumsrückgewinnung. In einer Jazzwelt zwischen verschiedenen Strömungen behält Moers seinen Charakter als Hort für die „exotischeren Pflänzchen im botanischen Garten“ der improvisierten Musik. Das Festival steht exemplarisch für ein kulturpolitisches Dilemma: Wie überleben spezialisierte Kulturveranstaltungen, wenn Basis und Mittel schwinden?

Die Antwort liegt in jener Mischung aus künstlerischer Kompromisslosigkeit und pragmatischer Flexibilität, die Moers 2025 zeigte. Es bleibt ein Festival, das sich jedes Jahr neu erfindet – ohne seine Seele zu verlieren.

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© 1997 – today | ISSN 2751-4099

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