Die nüchternen Zahlen zum Internationalen Jazzfestival Saalfelden sind so gar nicht nüchtern: mit rund 18.000 Konzertbesuchen, praktisch ausverkauftem Programm – wobei zu ergänzen ist, dass über die Hälfte der Veranstaltungen sogar kostenlos waren – 230 Musikern aus aller Herren & Damen Länder und einem Wetter, dass am Ende deutlich besser als erwartet mitspielte. Letzteres ist in Saalfelden nicht so uninteressant, weil viele der Veranstaltungen als Outdoor-Konzerte konzipiert sind. Schon am ersten Tag des Festivals ging es mit Lukas Kranzelbinder auf die Wanderschaft, auf dem Ritzensee gab es ein „Sonnenaufgangskonzert“ und im Kollingwald spielten Gaard Nilssen am Schlagzeug, Even Helte Hermansen an der Gitarre und der Trompeter Cuong Vu ein, in den Zuhörerseelen nachhallendes Konzert, dem von fast mehr Menschen als Bäumen gelauscht wurde.
Wenn der Regen dann doch einmal eine Wanderung aus dem Programm spülte, hatten die Veranstalter kein größeres Problem: so wurde das Konzert des Trios Lukas Kranzelbinder, Robin Finck und Otis Sandsjö kurzerhand ins Bergbaumuseum nach Leogang verlegt. Das Publikum konnte sich nicht nur an der mitreissenden Musik erfreuen sondern auch noch beeindruckende mittelalterliche Malerei und Skulptur im Veranstaltungsraum erkunden. Naturnähe gehört zum spezifischen Festivalcharme in Saalfelden, der nicht nur Jazzfreunde aus aller Welt in die Berge am Steinernen Meer lockt, sondern auch eine große Schar an Journalisten, Fotografen und Veranstalter. Das Jazzfestival in Saalfelden ist auch eine große Jazzmesse.
Jazzfestival Saalfelden 2022 – Photo: Schindelbeck Jazzfotografie
Ein anderer sind längst auch die „kleineren Konzerte“. Etabliert sind seit Jahren die Shortcuts im Nexus, in diesem Jahr mit einem fulminanten Soloauftritt des Pianisten Jason Moran, musikalisch fabelhaft und zudem auch ein gewitzter Conferencier seiner Musik, kurzweilig mit vielen erhellenden Kommentar zur Jazzgeschichte. Bei den Shortcuts trat auch eine der Festivalentdeckungen für mich, die norwegische Saxophonistin Signe Emmeluth mit ihrem Quartett auf. Eine fesselnde Improvisatorin in einer gut eingespielten Band, die hier noch mehr als später auf der Hauptbühne glänzen konnte. Ebenfalls im Nexus war – durchaus zum Staunen einiger Festivalbesucher – auch der russische Part des Festivals zu hören. Man hatte tatsächlich Pussy Riot engagiert. Mit Jazz hatte das nichts weiter zu tun, kraftvolle Musik mit Punkattitüde und musikalischem und gesellschaftspolitischem Anspruch war’s allemal. Die Multimediashow der Protagonistinnen war rappelvoll, die Band wurde gefeiert. Etabliert haben sich auch die Jazz-Flashmobs – mal in einer Apotheke, gelegentlich in einer Burgerbraterei oder in einer Fußgängerunterführung – Earcandy mit Anspruch und einem zufälligen Publikum: mal amüsiert, mal erstaunt, gelegentlich irritiert, fast immer: interessiert.
Eigentlich war der diesjährige Jahrgang ein Festival der Schlagzeuger. Die spielen natürlich immer eine wesentliche Rolle bei jedem Festivalgeschehen, schlicht, weil kaum eine Band ohne Trommelfellkünstler auskommt. Dass beim 2022er Jahrgang des Internationalen Jazzfestival Saalfelden noch einmal mehr Ohrenmerk auf Schlagzeugerinnen und Schlagzeuger gelegt wurde, das war schon im Vorfeld klar. Denn mit der Wienerin – in Berlin lebend – Katharina Ernst und dem Norweger Gard Nilssen waren gleich zwei Schlagzeuger im Programm, als „Artists in Residence“. Natürlich mit mehreren Projekten und damit durchaus programmprägend. Katharina Ernst war in den Corona-Schlamassl der Vorjahre geraten und konnte endlich tatsächlich ihre Residency mit drei Projekten zelebrieren. Angefangen bei den Shortcuts mit einem ganz ungewöhnlichen Auftritt mit Elektronik, Koloraturgesang und ihr selbst im Zentrum der Bühne, lautstark und mit strenger Metrik schamanenhafte Musik. Spirituelle Musik auf ihre Art. Eine andere Art wurde auf der Hauptbühne von einem der jungen schwarzen Musiker auf den Staaten zelebriert. Isaiah Collier trat mit seinem Quartett auf – „The Chosen Few“ genannt. „Wenige Auserwählte“ begleiten den Meister, der mit seinem hörbar von Coltrane und Sanders inspirierten, hochenergetisch beseelten Jazz das Publikum forderte und bestärkte. Und als wäre sein langes Powerset nicht genug gewesen, bestritt er direkt darauf im Nexus noch mit dem größten Teil seiner Band einen Großteil der vom Bassisten Lukas Kranzelbinder organisierten Session.
In Saalfelden haben sich die ausgedehnten Jazzstudienreisen der Organisatoren zu anderen Festivals gelohnt. Ein zeitgemäßes Programm, mit einigen jungen Neuentdeckungen, ausgewählten „Stammmusikerinnen und -musikern“ und insgesamt mit seinen experimentellen Kleinformen und spannenden Spielstätten ein am Puls der Zeit agierendes Festival. Man darf gespannt sein auf die kommende Ausgabe. Das Datum steht schon: 17. bis 20. August 2023. Und davor im verschneiten Saalfelden: 27.-29.1.23 „Drei Tage Jazz 2023“.
Fotos Jazzfestival Saalfelden / Urheberrecht: Frank Schindelbeck Jazzfotografie
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