Sun Ra / Interview und alle Fotografien: Hans Kumpf
Sun Ra würde am 22. Mai 100 Jahre alt
1990 interviewte Hans Kumpf den skurrilen Jazzmusiker in Moskau: Zwischen Gott und Teufel, Gagarin und Cosmos
1990, beim nachösterlichen Jazzfestival im spanischen Murcia bat mich Sun Ra, ihm Fotos von seinem Auftritt zukommen zu lassen. Wenige Wochen später, Ende Mai 1990, traf ich den selbsternannten Weltenraum-Musiker in Moskau, wo er zur Eröffnung des dortigen 1. Internationalen Jazzfestivals in einem Doppelkonzert auftrat. Trotz der Strapaze einer insgesamt mehr als dreistündigen Bühnen-Glitzer-Show willigte der alte Herr ein, mit mir ein Interview zu führen. Vertrauen hatte ich bei Sun Ra bereits in Spanien gewonnen. Wirkte er in Murcia noch übermüdet, so erschien er in Moskau ziemlich munter. Allerdings wusste ich aus eigener Erfahrung und von seinen Tourbegleitern, dass sein selbstversunkenes Genuschel nur schwerlich zu dekodieren ist. Eine Konversation mit Sun Ra zu führen, das war nicht gerade leicht, denn er benahm sich wie ein Politiker: Er antwortet gerne auf nicht gestellte Fragen. Ein Unikum war der Bandleader fürwahr – ob Scharlatan oder Meister, dies sei dahingestellt. Wenigstens einen Einblick in die fantasievolle und fantastische Gedankenwelt Sun Ras mag dieses Interview bieten. Sein Geburtsjahr wollte der mysteriöse Künstler nicht nennen. Die Jazzwelt hat sich aber auf den 22. Mai 1914 geeinigt. Heuer könnte er also auf Erden seinen 100. Geburtstag feiern. Sun Ra alias Herman Blount verstarb, und dies ist zweifellos gesichert, am 30. Mai 1993.
Hans Kumpf
Hans Kumpf: Sie konzertierten bereits 1989 im georgischen Tbilisi. Nun sind Sie zum zweiten Mal in der Sowjetunion. Was denken Sie als amerikanischer Künstler über dieses Land?
Sun Ra: Oh, ich denke, es ist wirklich wundervoll. Heute besichtigte ich das Denkmal für Yuri Gagarin.
Haben Sie auch die Weltraumkapsel von Gagarin auf der Allunionsausstellung gesehen?
Nein, nicht auf der Ausstellung. Aber auf der Statue mag auch sein Raumschiff abgebildet gewesen sein.
Haben Sie vielleicht noch seinem Grab an der Kreml-Mauer einen Besuch abgestattet?
Nein, dorthin ging ich nicht. Ich wusste nicht, dass es sich dort befindet.
Es ist ganz in der Nähe von der Grabstätte Stalins, gleich hinter dem Lenin-Mausoleum. Man braucht allerdings eine spezielle Erlaubnis, um sich dort aufzuhalten. Jetzt aber zu Ihrer Autographie. Wie begannen Sie, in Swing-Bands zu spielen?
Das meiste brachte ich mir selbst bei. In der Schule lehrte mich niemand diese Musik, denn dort spielten sie nur Guy Lombardo, Charles Eigar und so Zeugs. In Amerika haben die Kirchen viel Macht, und die Kirchen haben schon immer gesagt, dass der Jazz die Musik des Teufels sei. Vielleicht sagen sie es heute noch, aber da war ich ganz anderer Meinung. Ich hörte im Jazz wunderschöne Sachen heraus. Auch traf ich Musiker, die total uneigennützig sind. Die wollen kein Geld, die wollen nur spielen. Und die Musik war ein Resultat vom Zeitgeschehen. So begann ich, Platten zu kaufen von denjenigen, die wahrhafte Musiker und keine Kommerztypen waren. Ich arbeitete mit vielen Musikern und Bands, die nicht auf Schallplatten zu finden sind. Ich wusste, dass es eine Menge kreativer Künstler gab. Die waren nicht rauschgiftsüchtig oder tranken Whisky, sie spielten nur. Es waren einzigartige und nützliche Menschen. Sie wussten, dass sie es nie zu viel Geld brächten, weil in Amerika eben nur die kommerzielle Verwertbarkeit zählt. Aber der Jazz breitete sich in andere Länder aus, und da erfuhr er Anerkennung. Die Welt weiß, dass Kreativität und Schönheit seine Stärken sind. Die Welt braucht ihn. Amerika sollte sich glücklich schätzen, derartig meisterhafte Künstler in seinem Land zu haben. Aber Amerika nimmt das als eine Selbstverständlichkeit hin, und diese Einstellung ist sehr schlimm. der Rest der Welt hörte auf den Jazz. Schließlich bemerkten die Leute, dass sie etwas brauchten, wo etwas passiert. Und wirklich das ist Jazz – es passiert was. Unsere Zeitgenossen sind die einzigen Leute, die auf diesem Planeten unmittelbar Jazz und die wundersamen Musiker hören können.
Wie wechselten Sie vom Swing zum Free Jazz? Wie begann es mit Ihrem Arkestra und der Space Music?
Das Problem bestand darin, dass ich in Chicago spielte und die Leute sagten, ich hätte eine Bebop Band. Da gab es Leute, die der Musik feindlich gesonnen waren. Ich beschloss, eine Matinee zu geben, um ihnen zu zeigen, dass ich etwas anderes machte. Und da schaffte ich den Durchbruch. Den Zuhörern war dann anzumerken, dass sie wussten: Es geht etwas los. Dann offenbarte sich die Space Music, und ich setzte dies fort. Schließlich verließ ich Chicago und ging nach Montreal, wo ich wieder Ärger hatte. Sie sagten nämlich, ich würde die Musik Gottes spielen. Ich sagte, dass ich nicht Gott begegnet sei, trotzdem blieben sie bei ihrer Behauptung. Die Gewerkschaft bat mich dann, meinen Stil zu ändern – aber das konnte ich nicht tun. Ich war ein Naturtalent. Wie die Vögel singen, was sie eben singen, so muss ich das spielen, was ich spiele. Deshalb konnte ich mich stilistisch nicht ändern. Als ich gerade zwei Tage in Montreal gespielt hatte, verließ ich die Stadt und gab der Band den Namen eines Orchestermitglieds. Wir hatten am See einen anderen Job, und die Offiziellen glaubten, ich hätte das Land verlassen. Die Leute suchten mich, weil in der dritten Nacht dreihundert Leute mit ihren Cadillacs und Limousinen herumfuhren und nach der Band Ausschau hielten. Man erkannte, dass ein großer Fehler gemacht worden war. Sie fanden uns aber nicht. Dann kamen wir nach Montreal zurück und traten in einem Hippie-Laden auf, der sich „The Place“ nannte. Da spielten wir vor einer Riesenmenge. Aber es gab wieder Ärger. Die Schwierigkeiten mit den Behörden und der Polizei gingen weiter. Deshalb wollten wir in die USA zurück. In New York wurde unser Roadie von einem Taxi angefahren, und so hatten wir keine Transportmöglichkeiten mehr. Das bedeutete für mich, dass ich in der Stadt zu bleiben hatte. Senator Robbins bat mich, zu bleiben, und das tat ich auch. So fing es an, und ich blieb dann ziemlich lange in New York. Schließlich ging ich wieder nach Philadelphia. Ich hatte mir irre Projekte ausgedacht, und es gab die Chance, Wunder zu vollbringen und Dinge zu ändern. Denn ich dachte, Philadelphia sei die mieseste Stadt in Amerika. Ich sagte immer, Philadelphia ist das Zentrum des Teufels. Genau das sagte ich, und ich kann dies beweisen.
Sie haben zusammen mit dem Avantgarde-Komponisten John Cage gespielt. Können Sie mir etwas über diese Begegnung sagen?
John Cage ist dauernd auf Reise. Er wollte auf Coney Island spielen, und man wollte mich dabei haben. Die Veranstaltung in einem kleinen Saal war ausverkauft, und wir empfanden das Konzert als sehr gelungen. Davon ist eine Schallplatte erschienen.
Ich besitze diese Platte. Vor vielen Jahren führte ich mit John Cage ein Interview über seine Beziehungen zum Jazz. Deshalb ist seine Kooperation mit Ihnen sehr interessant für mich. Haben Sie mit ihm gerne musiziert?
Ja. Wir haben soeben eine Platte aufgenommen, Don Cherry ist auch drauf. Sie wollen ein derartiges Foto für das Cover verwenden (Sun Ra zeigt auf mein in Murcia aufgenommenes Foto, das ihn in Theaternebelschwaden und im Rotlicht zeigt – H. K.). Ich möchte ein solches spirituelles Bild verwenden. Die Aufnahme ist künstlerisch, die Lichteffekte sind hervorragend, es ist schön und ein bißchen abstrakt. Ich liebe Abstraktes.
Morgen wird es innerhalb meiner Fotoausstellung hier im Festivalgebäude auch eine Serie „Sun Ra in Murcia“ geben…
Ich würde mir das gerne ansehen, aber ich muss in der Frühe nach Großbritannien fliegen. Zunächst werde ich drei Tage in England sein, dann werde ich nach Schottland und Wales reisen und schließlich wieder nach London kommen. Alles konzentriert sich auf London, und andernorts ist man sauer, dass man nichts Eigenes präsentieren kann. Nun sind sie verärgert, dass ich zuerst in London spiele. Aber ich mache an jedem Abend etwas anderes, und deshalb ist der Vorwurf nicht berechtigt. In Wales war mir nie richtig klar, dass es ein eigenes Land ist. Ich mag wirklich Wales, Schottland und auch England.
Würden Sie gerne Stonehenge besuchen?
Ja wahrscheinlich. Ich weiß davon.
Das würde sehr interessant für Sie sein, speziell an der Sonnwendfeier im Juni.
Ich würde gern runtergehen, wo all die Leute diese Erfahrungen machen. Ich fühle die Dinge, ich bin sehr sensibel.
Die Hippies haben die Monumente inzwischen ja in Mitleidenschaft gezogen.
Ich reagiere auf alles sehr sensibel. Ich kann die Dinge fühlen, wie ich schon sagte. Diese Leute sprechen über Gott und einen Geisteszustand. Ich sagte, sie seien nicht die einzigen, es gäbe einen anderen: Moses oder einer, der noch nicht in den Büchern steht, waltet über das Schicksal der Menschen und achtet vorsichtig auf sie. Ich. weiß nicht, was es ist, aber ich fühle, dass etwas anderes da ist. Als ich in der Türkei war, überreichten mir ein paar Leute ein Buch, und der Autor davon hatte übersinnliche Eingebungen. Sehr interessant. Die Außerirdischen könnten auf diesem Planeten Dinge bewerkstelligen, zum Beispiel, dass Ägypten zerstört würde. Aber es sei jetzt Zeit für die Weisheit, niemand solle dem anderen wehtun. Wir alle müssen uns ändern. In dem Buch stand geschrieben, dass die Außerirdischen uns bei ihrer Landung hier nicht angreifen wollten. Wenn wir dies jedoch täten, würden ihre Schutzschilder die auf sie gerichteten Raketen abwehren und sofort zurückschicken. Innerhalb von einem Sekundenbruchteil wäre dann unser Planet zerstört. Das war also die Botschaft. Sie versuchen, der Menschheit zu helfen. Die Menschen müssen zukünftig wirklich „human“ werden.
Kennen Sie den deutschen Autor Johannes von Buttlar? Er hat beispielsweise das Buch „Supernova“ verfaßt und beschäftigt sich mit mystischen Vorkommnissen zwischen der Erde und Wesen aus dem Weltall.
Ja, ich glaube, dass ich das gesehen habe. Wir haben einen eigenen „cult book store“, und da werde ich viele meiner Platten reinstellen.
Können Sie mir verraten, wie alt Sie sind?
Man lebt verschiedene Leben und kommt immer wieder neu auf die Welt. Deshalb ist es unerheblich, wie alt man im augenblicklichen Leben ist.
In Ihrem Alter sind die vielen Tourneen doch eine erhebliche Strapaze?
Nein, gar nicht. Ich verweile ja auf dem gleichen Planeten. Ich treffe neue Leute. Ich sehe Pianisten, Architekten. Ich möchte gerne die Werke der Menschen sehen. Ich kann mich nicht immer am gleichen Ort aufhalten. Das Kunstwerk vom Sputnik außerhalb meines Hotels ist sehr schön.
Sind Sie hier in Moskau also im Hotel „Cosmos“ einquartiert, und Sie erwähnten demnach die Statue gleich in dessen Nähe?
Ja, ich logiere im Cosmos.
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