27. Internationale Theaterhaus Jazztage 2014


Text und Photos: Hans Kumpf 

Internationale Stars und regionale Szene – Musik, die ins Auge geht

2013 gab es zu Ostern eine böse Bescherung: Keine Jazztage im Stuttgarter Theaterhaus. Finanziell waren diese damals von Werner Schretzmeier und Co. nicht zu stemmen, wollte man dem gewohnten künstlerischen Anspruch genügen. Jetzt aber ist das Festival schnell wieder auferstanden und quicklebendig, und dies ohne Zuwendungen seitens der Öffentlichen Hand. Privaten Sponsoren sei Dank. Das Programmheft frohlockte: „143 Musikerinnen und Musiker aus 23 Ländern, in 11 Konzerten, an fünf Tagen“. Außerdem kamen kostenlos neun Jazzfilme zur Vorführung – von „Blue Note – A Story of Modern Jazz“ bis „Play your own Thing“.

Und sogleich wurde wieder einer lieben Tradition gehuldigt: Man feierte im großen Stil den runden Geburtstag eines verdienten Künstlers. Heuer war Joachim Kühn, geboren am 15. März 1944 in Leipzig, das Glückskind. Dessen knapp 15 Jahre älterer Bruder Rolf hielt am Ende von Hitlers Krieg bei Bombenalarmen in der Bach-Stadt das Baby Joachim im Luftschutzkeller schützend in den Armen. Derartige familiäre Zuwendung begeisterte Joachim Kühn frühzeitig für den Jazz. Auch im allseitigen Rentenalter bleibt das Brüderpaar musikalisch unzertrennlich. So blies der inzwischen 84-jährige Rolf Kühn auch in Stuttgart kraft- und lustvoll Klarinette. Sein runder, klar akzentuierter Ton bleibt individuell, auch wenn dieser zuweilen an Benny Goodman erinnern mag.

Mit 70 hat man noch Träume: Joachim Kühn erweist sich am Flügel nun wirklich ausgereift und präsentiert eine gediegene Spannbreite von filigranem Free Jazz bis zur retrospektiven Swing-Ballade. Seine Lebensgeschichte erzählte der Pianist, der wieder mal kurz zum Altsaxophon griff, dem Publikum quasi improvisatorisch. Nach seinem persönlichen Exodus aus der DDR im Jahre 1968 ließ sich Joachim Kühn in Paris wieder, und mit der französischen Jazzszene pflegt er seitdem eine besonders enge Verbindung. So auch mit dem (Bass-)Klarinettisten und Sopransaxophonisten Michel Portal (78), der als Interpret von Mozart- und Stockhausen-Musik bekannt sowie in der Improvisationsmusik („New Phonic Art“) kompetent ist. Dazu kommt als weiterer Bläser ein Amerikaner in Paris, nämlich Archie Shepp (Jahrgang 1937), der ewige Jazz-Avantgardist mit einem Faible für Duke Ellington.  

Faszinierend, welch‘ frische Musik die älteren Herren da kreierten – mit lässiger Lust zur spontanen Erfindungsgabe bei stets wacher Kommunikation. Freilich plagten Archie Shepp erneut gesundheitliche Probleme mit seiner Unterlippe, was unbeabsichtigte Quietschereien zeitigte. In Nachfolge von Jean-François Jenny-Clark (1944-1998) hat Kühn mit Bruno Chevillon wieder einen überaus exzellenten Kontrabassisten zur Verfügung, und Daniel Humair (Jahrgang 1938) agiert am Schlagzeug ohnehin sensibel und virtuos.

In den letzten Jahren beschäftigte sich Joachim Kühn vor allem mit nordafrikanischer Musik und leistet auf der kosmopolitischen Kulturebene einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung. So kooperiert er gerne mit dem Marokkaner Majid Bekkas, der eine bassgitarrenartige Guembri zupft und noch singt. Als Spanier hat der Schlagzeuger Ramón López sozusagen auch arabische Musik im Blut. Wiederholt bedienten sich beim Stuttgarter Geburtstagsständchen die Instrumentalisten der phrygischen Tonskala, die sowohl beim Flamenco als auch bei nordafrikanischer Musik gerne Verwendung findet. Für ein wahres Trommelfeuerwerk von der bloßen Hand gemacht sorgte als Gast Moussa Sissokho aus dem Senegal. Jedes Stück des Abends wurde in einer anderen Besetzung dargeboten. Langweilig konnte es hierbei schwerlich werden.

Währenddessen präsentierten im ebenfalls vollen Theatersaal 3 zwei Baden-Württembergerinnen ihre Ensembles: Die Pianistin Olivia Trummer ihr neues Trio und die Vokalistin Anne Czichowsky ihr Quintett „Lines for Ladies“. Bei den jungen Damen ging es mitunter betulicher zu als bei den Senioren um Joachim Kühn. Die regionale Szene demonstrierte auch an den folgenden österlichen Jazztagen ihr hohes Niveau.

Das bestens eingespielte Team der Wahl-Stuttgarter Patrick Bebelaar (Piano), Günter Lenz (Kontrabass) und Herbert Joos (Trompete, Flügelhorn, Alphorn) praktizierte humorvoll einen feinnervigen Jazz und vereinnahmte dabei subtil etliche Folklorismen. Prägnant und vielseitig das von dem Saxophonisten Peter Lehel inszenierte fünfköpfige „Jazz Ensemble Baden-Württemberg“, in dem noch der Trompeter Thomas Siffling, der Pianist Kristjan Randalu, der Bassist Axel Kühn und der Schlagzeuger Bodek Janke mitwirkten – allesamt im Südwesten nicht ohne Grund  preisgekrönt.

Der niederländische Flügelhornist Ack van Rooyen und der Amerikaner Joe Gallardo glänzten einst als Solisten in der Big Band von Erwin Lehn, nun kamen die bejahrten Herren an ihren alten Wirkungsort mit „eigenen“ Bands zurück. Der eigentlich recht coole Ack van Rooyen (84), dessen Sound übrigens ein jeder von Bert Kaempferts Welthit „Afrikaan Beat“ kennt, blies vehement an der Seite des Youngsters Paul Heller (Tenorsaxophon). Die „Theaterhaus Concert Jazz Band“ war zunächst eine klingende Protestversammlung gegen die ursprünglich geplante Schließung des Studiengangs Jazz an der Stuttgarter Musikhochschule, jetzt jubilierte das Orchester mit konventionellen Bläsersätzen und einer hochdimensionierten Rhythmusgruppe freudig und kraftvoll, beispielsweise Gallardos „Danzon Azul“. Schlussendlich ließen noch der sich im Schwabenland wohlfühlende Gitarrist Lorenzo Petrocca und die Bands seiner drei Brüder aufhorchen, derweil zeitlich parallel das österreichische Duo von Thomas Gansch (Trompete) und Georg Breinschmid (Bass) sowie die beiden Ostdeutschen Uli Gumpert (Piano) und Baby Sommer (Perkussion) miteinander korrespondierten.

Einen immensen Starkult wirbelte Hiromi Uehara auf. Bevor die japanische Pianistin die Bühne betrat, knipsten sich die Fans vor den Instrumentenaufbauten deren Trios. Allein schon optisch imposant war die wie eine allmächtige Trutzburg errichteten Schlaginstrumente des britischen Rockers Simon Phillips, außergewöhnlich auch die sechssaitige Korpusbassgitarre von Anthony Jackson. In den 1970er Jahren fielen bei dem wilden Free-Jazz-Pianisten Yōsuke Yamashita immer wieder die Begriffe von Kamikaze- oder Harakiri-Jazz. Die zierliche Hiromi drischt nicht minder gewalttätig die Tasten und entfacht eine explosive Performance. Ein Dauerfeuer, kaum Ruhepunkte.

Der hochgelobte Geiger Adam Baldych trat in einem Doppelkonzert an. Zuerst in einem „klassischen Duo“ ziemlich lyrisch mit dem Pianisten Yaron Herman. Beide interpretierten dabei Baldychs dreivierteltaktige Komposition „Letter to E.“. Sodann agierte der versierte Pole scharfkantig-rhythmisch mit dem italienischen Meisterakkordeonisten Luciano Biondini. Tags darauf musizierte Biondini mit dem französischen Tubisten Michel Godard und dem Schweizer Lucas Niggli, der diesmal sein Schlagzeug überaus behutsam behandelte.

Von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert wurde das junge Duo des belgischen Gitarristen Philip Catherine (Jahrgang 1942) und des aus Flensburg stammenden Kontrabassisten Martin Wind (Jahrgang 1968). Die beiden Saitenkünstler ganz unterschiedlicher Generationen lieferten wohl die Überraschung des Festivals.

Routine dagegen von Saxophonist Klaus Doldinger, der mit seiner (umbesetzten) Formation Passport und seiner „Tatort“-Titelmelodie aufwartete. Ebenso freundlich zeigte sich das Klangbild des französischen Geigers Jean-Luc Ponty. Der 71-Jährige ließ sich von seiner Tochter Clara (Keyboards, Vocal) zu „easy listening“ verführen, wobei der wendige Bassist Nathanel Malnoury und der Drummer Damien Schmitt noch zu textlosem Chorgesang („huhuh“) eingespannt wurden.

Spannung im besten Sinne versprach das frische Trio des finnischen Pianisten Iiro Rantala, tschechischen Bassisten Mirolav Vitous und des (deutschen) Schlagwerkers Wolfgang Haffner. Energisch langte Edmar Castaneda in die Harfensaiten – das angebliche Engelsinstrument klingt bei ihm wunderschön teuflisch. Eine relativ jazzunübliche Harfe wies auch das von Rainer Tempel mit Stab dirigierte „Zurich Jazz Orchestra“ auf, welches in beeindruckender Manier Henning Mankells interessanten Monolog über Miles Davis musikalisch dezent untermalte. Der engagierte Schauspieler Daniel Rohr war auch beim weiteren Musiktheater „To the Dark Side of the Moon“ dabei. Optische Effekte bot ein weiteres Ensemble aus der Schweiz, nämlich der „Ronin Rhythm Clan“ des Pianisten Nik Bärtsch. Und erst recht von „Visuals“ geprägt war die elektronifizierte Darbietung der „Jazz Big Band Graz“, bei der die wenigsten Mitglieder in der österreichischen Jazzhochschulstadt tatsächlich ihren regulären Wohnsitz haben.  

Besonders ins Auge stachen an den Foyerwänden die edlen Schwarzweiß-Fotografien von Francis Wolff. Der Mitbegründer des legendären „Blue Note“-Labels schuf auch hier bleibende Kunst. Über Publikumsresonanz brauchte sich das Theaterhaus beim Osterjazz 2014 nicht beklagen. Mögen auch im nächsten Jahr die nötigen Subventionsgelder fließen. Der hier gebotene Jazz ist es allemal wert.

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