Drei Sommer-Tage im November
Beste Musik – sinnlich und besinnlich, aber zumeist wenig Publikum: Das herbstliche „Günter Baby Sommer Weekend“ in der Haller Hospitalkirche zeichnete mit vier Konzertvarianten und zwei Vorträgen die vielfältigen Facetten des nun siebzigjährigen Perkussionisten nach. Als Veranstalter fungierten das städtische Kulturbüro und der örtliche Jazzclub mit Dietmar Winter an der Spitze.
Ein auf ihn ganz persönlich zugeschnittenes Wochenende, welches lange in musikalischer Erinnerung bleiben wird, gestaltete Baby Sommer in Schwäbisch Hall. Unvergesslich seine „Songs For Kommeno“, die ein Mitte August 1943 von deutschen Soldaten verübtes Massaker in einem kleinen griechischen Dorf zum Inhalt haben. „Tears“, also „Tränen“, lautete der 1. Satz, bei dem der gestrichene Kontrabass (Spilios Kastanis) und der ähnlich wie ein Cello klingende Sechssaiter Yayli Tanbur (Evgenios Voulgaris) die Ermordung von 317 Zivilisten inbrünstig beweinen. Eine Röhrenglocke klingt mahnend wie ein Totenglöckchen, wenn in einem ergreifenden Klagegesang die durch Zufall überlebende Maria Labri die furchtbaren Geschehnisse schildert. Die 80-jährige Dame kann nicht mehr flugreisen, deshalb wurde ihr mikrotonales Lamento von einer CD eingespielt. Floros Floridis auf Klarinette, Bassklarinette als auch auf dem Sopransaxophon und die Vokalistin Savina Yannatou mit oft wortlosem Hoch-Gesang waren erst recht für die melodischen Momente zuständig. Komponist Sommersteuerte die eindringliche Andacht von seinem reichlich bestückten Schlagwerk mit viel Tamtam und Gongs.
Vor dem Konzert informierte Prof. Dr. Christoph Schmink-Gustavus von der Universität Bremen sehr plastisch über die systematische Schreckensherrschaft der deutschen Wehrmacht (auch) in Griechenland. Lustig dagegen fiel das allererste Referat aus, als Dr. Oliver Schwerdt (Leipzig) am Donnerstagabend kenntnisreich in Werk und Leben von Professor Günter Sommer, dem „Artist Of Residence“, einführte. Unterhaltsam auf hohem Niveau ging es ebenfalls danach mit Nora Gomringer zu, die temperamentvoll Lyrik aus eigener Feder und von Heinrich Heine quasi improvisatorisch vortrug und auch mit Scat-Vokalisen nicht geizte. Baby Sommer, übrigens ein bewunderter Kunstkenner, fand ja auch schon „live“ sowie im Studio die richtigen Sounds und Korrespondenzen zu den Autoren Rafik Schami und Günter Grass.
Eine weitere kurzweilige Duo-Performance vollführte Sommer zusammen mit seiner Ehefrau Katharina Hilpert, die als variable Flötistin mal im Sujet von Tonschöpfer Paul Hindemith aufhorchen lässt, sich Folkloristischem aus deutschen Landen bedient und auch herzhaft zu swingen vermag. Gatte Baby, sozusagen der Rhythmus-Bezwinger von Dresden, schlägt da mal wie die historischen Landsknechtstrommler drein, ergeht sich aber vorzugsweise gerne in Riffs und ostinaten Figuren – und erweist sich dabei vielfach als meisterlicher Melodiker. Freilich: Selbst auf dem relativ konventionellen Drumset bleibt sein Sound individuell, wenn er genormte „Paiste“- oder „Zildjian“-Cymbals verabscheut und lieber schepperndes Metall traktiert.
Zum fulminanten Finale das aus der Gruppe „Synopsis“ hervorgegangene „Zentralquartett“, das führende Jazzensemble der verblichenen DDR. Altsaxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky wird am 10. Dezember 80 Jahre alt, stößt aber immer noch mächtig progressiv und widerborstig in sein Horn. Ende 2013 ist dann doch endgültig Schluss mit dieser Band, die jetzt präzise vier Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Auch der pfiffig arrangierende Pianist Uli Gumpert und der Posaunist Conny Bauer, der ganz selbstverständlich mit kraftzehrender Zirkularatmung und mehrstimmigem Interferenztönen brilliert, haben längst das offizielle Rentenalter erreicht. Und mittendrin der „Time Keeper“ Günter Baby Sommer, welcher bei der metrischen Grundlagenarbeit gewitzt mit knitzen Überraschungen aufwartet. So kommt mal zahnvibrierend eine kleine Maultrommel mit ins Spiel. Oder er soliert polyrhythmisch mit „Talking Drums“ in einer Mixtur zwischen Benny Goodmans Gene Krupa und dem Hard Bopper Art Blakey.
Beim Zentralquartett-Kollektiv stehen furiose Free-Jazz-Attacken in Kontrast zum ohrengefälligen Ausgangsmaterial: Volkstümlich, aber nicht dümmlich. Enthusiastischer Applaus für die vier alten Herren voller jugendlicher Spielfreude – und ganz besonders natürlich für den umtriebigen Trommler Günter Sommer, genannt „Baby“, der nach wie vor nimmermüde weltweit agiert und global immens geschätzt wird.
Am Rande
Als „Men In Black“ traten am Samstag in Halls Hospitalkirche die älteren Herren vom „Zentralquartett“ auf. Alle? Nein, Günter Baby Sommer, dem das musikalisch hochwertige Wochenende gewidmet war, gönnte sich eine Ausnahme vom uniformen „Dress Code“. Während Pianist Uli Gumpert, Saxophonist Luten Petrowsky und Posaunist Conny Bauer durchweg schwarz gekleidet auftraten, gönnte sich der Dresdner Drummer locker ein dunkles Hawaii-Hemd mit weißen Flecken. Ansonsten trägt Baby Sommer nunmehr konzertant immer ein blütenweißes Shirt. Früher war noch eine (nicht weiße) Weste sein Markenzeichen.
Das „Günter Baby Sommer Weekend“ lockte auch etliche journalistische Jazzexperten aus weiter Ferne nach Schwäbisch Hall. Roland Biswurm berichtet ansonsten regelmäßig über die Donaueschinger Musiktage oder das JazzFest Berlin für den Bayerischen Rundfunk. Jetzt beobachtete der Hobby-Drummer den letzten Auftritt des „Zentralquartetts“ in Süddeutschland, um darüber für den Münchner Sender eine Reportage zu fertigen. Sein Radiobeitrag wird am kommenden Sonntag, 1. Dezember, von „Bayern2“ ausgestrahlt, und zwar in der Sendung „Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay“ zwischen 18.05 Uhr und 19.30 Uhr.
Das Zentralquartett, Fotos des Konzerts von Frank Schindelbeck