John Tchicai und Vitold Rek, Sörgenloch, 16.8.2002

Einst stand der Saxophonist im Zentrum der Avantgarde des freien Jazz. Damals im revolutionären New York. Doch selbst in jener Zeit verleugnete John Tchicai nicht die Gradlinigkeit seines Vorbildes Lee Konitz. Und auch heute, einige Jahrzehnte später, pflegt der in Kopenhagen geborene und in Frankreich lebende Afrikaner die klare Linienführung auf dem Tenor- und dem Sopransaxophon, die langgeschwungenen singbaren Melodiebögen sowie die Klangfarben zirkulierender Luftsäulen in seinen Instrumenten. Eruptive Stakkato-Ausbrüche, überblasene High-Notes und seine gescatteten Vokalisen sind eingebettet in diese vibratoreichen Klangteppiche.

Mit der gleichen Gradlinigkeit führt der in der Rhein-Main-Region heimisch gewordene Pole Vitold Rek seine mit viel harmonischer Raffinesse durchsetzten Walking-Bass-Linien. Die ruhig gezupften Kantilenen, die obertonreichen Flageoletts und die mit dem Bogen gestrichenen mehrstimmigen Sound schmiegen sich an das Saxophonspiel Tchicais an. Es sind die Eleganz gepaart mit neutönerischen Harmonien bei gleichzeitiger Liedhaftigkeit sowie die Verwendung modaler Strukturen, die das Kontrabass-Spiel Reks über die Normalität des Jazz-Basses hinausheben. Das Spiel auf dem voluminösen Instrument wird Medium eines tief empfundenen Gesanges und einer ebenso tief verwurzelten Liebe zur Folklore seiner polnischen Heimat. In „Zbigi“, einer Komposition, die Rek dem früh verstorbenen Geiger Zbigniew Seifert gewidmet hat, lässt der Bassist den Geist des Violinspiels wieder auferstehen, während Tchicai in der Tradition der Meister der Jazz-Balladen weit geschwungene Melodiebögen baut. „Lo.Bo.Ga.“ führt tief in die polnische Tradition zurück, von der Rek beschwingt zu singen weiß. Mit einem ausgedehnten Ruf-Antwort-Spiel kommunizieren die beiden Musiker in „To Wibke and Peedoh“, einer Komposition Tchicais. Beim Konzert im Vereinshaus der Rheinhessen-Gemeinden Sörgenloch beweisen die Jazzmusiker im intimen Duo die Kunst des sensiblen Aufeinandereingehens – die zugleich jedem der Beteiligten viel Freiraum für solistische Improvisationen bietet. Die Zwiegespräche leben von einer inneren Spannung, die aus kontemplativer Ruhe erwächst. In dieser Form des Zusammenspiels erhält der Dialog eine spirituelle Dimension.

„The Bass is the base“ lautet der treffende Titel einer Komposition und eines Poems von John Tchicai, der auch den satirisch-dadaistisch angehauchten Text für das Motto des Konzertes „Satisfaction“ liefert. Zehn Jahre dauert nun diese fruchtbare künstlerischen Zusammenarbeit an, die mit dem Programm „Satisfaction“ begann.

Am Abend zuvor hatte Vitold Rek im Frankfurter Palmengarten im größeren Verbund Jazz und polnische Folklore zusammengeführt. „The Polish Folk Explosion“ ist aber mehr als die übliche Mixtur aus für den Jazz aufbereiteter Folklore. Rek komponiert vielmehr neue Stücke im Sinne der Tradition seiner südpolnischen Heimat und lässt ein Folklore-Ensemble gegen Jazzmusiker antreten. Zu einer musikalischen Explosion – wenn auch einer durchaus „beswingten“ und stets tänzerischen, kommt es, weil nicht die Symbiose, sondern das schrittweise Aufeinanderzugehen mit vielen Reibungen und Kontrasten im Vordergrund steht. Das sechsköpfige Ensemble „Kapela Resovina“ mit ihrem Instrumentarium und dem Gesang sorgt für die folkloristische Basis, über und gegen die der Posaunist Albert Mangelsdorff, Saxophonist Charlie Mariano, Klarinettist JohnTchicai, Schlagzeuger Janusz Stefanski (auf der CD: Gilbert Matthews) und Bassist Vitold Rek ihre teils swingenden, teils freien Jazz-Improvisationen setzen. Dazwischen kommt es aber auch zu Ruf-Anworten-Parts etwa zwischen der Folkgruppe und den singenden Linien von Tchicais Sopransaxophon, zu Unisono-Duos vor dem gestrichenen Bass oder zu percussiven Interaktionen von Gesang und Schlagzeug – um im folgenden Stück zu freitonalen, pulsierenden Kollektiven zu wechseln, die der Avantgarde näher als dem Jazz und der Folklore stehen, teilweise zirzensischen Charakter annimmt. Ein warmes, mehrstimmiges Posaunensolo, folkmelodisches Violinenspiel, jazziges Sopransaxophon und Gesang wechseln sich über ostinaten Rhythmusfiguren ab.

Fast 1.500 Zuhörer verfolgten die „Polish Folk Explosion“. Wer sie dennoch versäumte oder gerne wiederhören will, der kann seine Lust mit der gleichnamigen CD befriedigen (Vitold Rek: The Polish Folk Explosion – Taso Music Production , TMP 507, Vetrieb: Sunnymoon).

| Mümpfers Jazznotizen

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