Bei einem der letzten Moers Festivals mit Publikum war vor der Veranstaltungshalle eine große Tafel aufgestellt, auf der die Besucher ihre mehr oder weniger geistreichen Kommentare zum Festival loswerden konnten. Vermutlich haben einige dieser Bemerkungen bis in die diesjährige Festivalgrafik gewirkt. „Musikzirkus“ kann man dort entziffern, „Orte der Freiheit“ und „is this noch a jazzfest?“. Und daraus wird ein Teil des Festivalmottos: „this is not a jazz festival“. Aus dem Publikum der (Online) Presskonferenz wurde vorsichtig angefragt, ob auch noch „traditioneller Freejazz“ beim Festival seinen Raum finde. Und Festivalchef Tim Isfort konnte in dieser Hinsicht beruhigen: wird so sein. Andere Stichworte mag man getrost selbst in nebenstehender Grafik entziffern. Ein wenig Haut vom Moerselefanten ist übrig geblieben und wer mag im Plakat portraitiert sein? Die Improviser in Residence, Tomeka Reid, die ist’s wohl nicht.
Geschäftsführerin Jeanne-Marie Varain und der Künstlerische Leiter Tim Isfort (links) mit bemerkenswertem physischen Einsatz im moersiverum der Programmpressekonferenz. Nur leicht geneigt Bürgermeister Christoph Fleischhauer, Aufsichtsratsvorsitzender Mark Rosendahl sowie Kulturdezernent Wolfgang Thoenes (rechts), Festivalhenne Burkhardt und im Hintergrund die Artist in Residence Tomeka Reid bei der Programmpressekonferenz des Moers Festivals.
Im bisher bekannten Programm wirkt der Begriff „Jazz“ eher als die Prise Salz in der Suppe, die ansonsten aus kaum Klassifierbarem über experimentellen Rock bis hin zu ethnisch und avantgardistischer Musik besteht. Ein Festival zwischen Mädchenchor des Essener Doms und Musikerinnen und Musikern aus Myanmar und auch wieder aus Afrika: Äthiopien und Sudan. Nicht nur international sondern eben auch exotisch-international ist dieses Programm – eine typische Prägung schon der bisherigen Moersprogramme der Ära Isfort. Es ist auch Zeichen beharrlicher Verfolgung von geplanten Projekten, schließlich war die musikalische Szene Myanmars schon in den Vorjahren fürs Festivalprogramm geplant und man darf gespannt sein, wie sich die mittlerweile bei uns fast nicht mehr wahrgenommene schlimme politische Situation in diesem Land im Programm widerspiegelt. Musikalisch jedenfalls auch im Projekt von Jan Klare, Michael Vatcher mit dem italienischen Gitarristen Francesco Diodati als Gast, die in einer hybriden Situation zu vorbereiteten Videosequenzen musikalischer Freunde aus Rangun spielen und improvisieren werden.
Vielleicht findet sich das Myanmarthema auch in den „discussions“, die von Anna Shapiro kuratiert werden. Dort stehen bislang die Themenschwerpunkte „Jüdische Diversität“ und das Festivalmotto „this is not a jazz festival (is this noch a jazz festival?)“ im Mittelpunkt.
Musikalisch steht ein weiteres Land im Fokus: Israel. Abgesehen vom vielseitigen Saxophonisten Assif Tsahar, der die Jazz-Komponente beim Festival mit seinem Quartett bereichern wird, stehen auch hier avantgardistisch-experimentelle Ansätze im Vordergrund: die israelische Komponistin und Performerin Maya Dunietz schrieb einen Zyklus auf arabische Gedichte, die aus Palästina stammen. Bei der Aufführung wird sie nicht nur vom zeitgenössischen Meitar Ensemble begleitet sondern setzt auch den schon erwähnten Mädchenchor des Essener Doms bei der Interpretation der arabischen Lyrik ein. „Dunietz´ Werk verknüpft vokale Repetitionen, liedhafte Motive mit geräuschhaften Strukturen und erweiterten Spieltechniken zu einem einmaligen Hörerlebnis und zu einem Fanal für die Überwindung von Ausgrenzung und Hass.“
Die Vielfalt und Bandbreite im Festivalprogramm auch nur annähernd darzustellen würde den Rahmen hier sprengen – ein Blick auf die Website des Moers Festivals hilft weiter. Die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedenster Projekte wirkt auf den ersten Blick erschlagend und die Suche nach roten Linien im Programm gehört zum Spiel. Das Festivalplakat gibt es gut wieder: freundliches Chaos, das mit etwas Abstand betrachtet ein Bild ergibt. Überlagerung und Synchronizität ist auch ganz praktisch im Programm geplant: es wird drei Hauptspielstätten geben, darunter der sich beim letztjährigen Festival als ausgezeichnete Spielstätte erwiesene Rodelberg mit seiner Gras-Amphitheater Atmosphäre. Gleichzeitige Konzerte werden stattfinden und die virtuelle Verbindung der Spielstätten ist angekündigt. Technisch musste man in den vergangenen Jahren so Einiges lernen, was nun bei Experimenten hilft. Weniger schön: das Festivaldorf, als Mittel- und Treffpunkt wird es so nicht mehr geben (dezentrale Stände schon). Nicht nur als Resultat der räumlichen Entzerrung, sondern schlicht, weil ein Drittel der früheren Stände „dank“ Coronafolgen nicht mehr existiert.
Was es weiterhin gibt, und hier fehlen noch die Details: die von Jan Klare kuratierten Moers Sessions mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Festivalmusikerschar und die Konzerte rund um und mit der Artist in Residence, der Cellistin Tomea Reid. Wer die Celistin kennt, freut sich jetzt schon und andere werden sehr erfreut werden, von ihrem kreativen Freigeist. Auch hier sind interessante neue Kombinationen zu erwarten aber auch ihr Trio Artifacts, mit Nicole Mitchell an der Flöte und ihre weitere feste Formation, das Tomeka Reid Quartet. Die starke Verankerung des Improviser in Residence Konzepts in Moers zeigt sich auch daran, dass sie wiederkehren. In diesem Jahr mischen sich beispielsweise die Saxophonistin Angelika Niescier und der Trompeter John-Dennis Renken ins Programm: auch hier in einer Crossover-Situation mit einem achtköpfigen malayischen Percussion-Ensemble.
Termin moers festival 2022: 3.-6. Juni
Sonst so? Art-Rock (Horse Lords), Noise (Ligthning Bolt), Transcendend Black Metal (Liturgy), „Nicht-anthropogene Musik“ – ja, auch von Robotern gespielt Musik ist zu hören, im Fachbereich 08. Zu Pfingsten gibt es einen Schwerpunkt mit Orgelkonzerten, unter anderem mit Prof. Wolfgang Seifen, dem Titularorganisten der Gedächtniskirche in Berlin. Natürlich klappt es auch 2022 mit der erfolgreich etablierten Kompositions-Jugendförderung unter dem Titel „moesterclass“ – in diesem Jahr kuratiert von einem der früheren Gewinnner des Kompositionspreises, Lukas Döhler.
Last not least, es gibt es einen neuen Raum bei der die Freiheit des Machens auf die Spitze getrieben wird: ANNEX! wird zur dritten Bühne des moers festivals – die Festivalmusikerinnen und Musiker haben hier völlige Freiheit und die Festivalleitung hält sich komplett heraus. Keine Regeln, keine Vorgaben – die Musiker können sogar eigene Gäste einladen…
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| Moers Festival 2022 Programm als PDF (Stand 22/03/30)
| Moers Festival 2018 auf den Jazzpages
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| Moers Festival 2021 auf den Jazzpages
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Das vorschaubild zum film von der diesjährigen pressekonferenz für das moerser festival empfinde ich als zynische und irreführende geschmacklosigkeit: ein rußgrauer, trister, anonymer wohnblock, in deren fenster fetzen des festivalplakats auszumachen sind. Aus einem fenster schlagen flammen heraus, so als wäre dort gerade eine rakete eingeschlagen. Eine glatte instrumentalisierung der kriegsbilder-ästhetik, die seit wochen täglich auf unseren bildschirmen landet und sich in unseren köpfen bereits eingebrannt hat, bis zur langsamen abstumpfung gegenüber der unvorstellbar grausamen realität. Was hat dies mit einem musikfestival zu tun? Will man hier mit gewalt aufmerksamkeit erheischen, will man provozieren zur eigenen imagepflege, auf teufel komm raus, weil moers ja doch so gaaanz anders ist oder sein will, wie alle anderen festivals zusammen? Haben sich die veranstalter gedanken gemacht, was dieses bild bei menschen auslösen könnte, die diesem oder einem anderen krieg oder einer anderen katastrophe gerade mal entronnen sind? Wo ist der bezug zu den dargebotenen künsten des festivals? Oder soll man dieses katastrophenbild als vorgeschmack auf die pressekonferenz selbst sehen, die wieder mal unerträglich selbstgefällig bis gelegentlich albern quasi als absurdes theater inszeniert wurde? Arrogant zudem die bemerkung des moerser bürgermeisters fleischhauer, im moersland gäbe es keine zerstörung, keine brände, keinen krieg. Ein statement aus dem sicheren, warmen sessel im wohlfühlland, hier im friedensverwöhnten westen, vermeintlich weit genug entfernt vom nur 1800 km entfernten kiew. Das möge er einmal einem ukrainischen flüchtling in deutschland persönlich sagen. Ebenso geschmacklos die bemerkung von herrn rosendahl, aufsichtsratsvorsitzender der moers kultur gmbh, der noch einen draufsetzt: in moersland würden bomben und raketen dahin zurückfliegen, wo sie herkamen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur einer der festivalmusiker dies unterschreiben würde – selbst wenn dies natürlich nur im übertragenen sinne gemeint war, schlimm genug.
Was ich nicht verstehe, dass dieses kalkuliert reißerische und aus meiner sicht negativ besetzte und deshalb irreführende vorschaubild zum pressekonferenz-video – für ein sicher spannendes festival – hier auf den von mir sonst hochgeschätzten jazzpages abgebildet werden muss. Muss? Es reicht doch, wenn meinetwegen fett eine link-zeile dasteht. Das wäre jedenfalls meine bitte an die jazzpages.
Ps: großes lob an dieser stelle für das im februar aus leider hochaktuellem anlass hier gerepostete interview von hans kumpf mit arkady schilkloper und vadim neselovskyi aus dem jahre 2014: „Harmonie zwischen einem Russen und einem Ukrainer“. Der spirit dieser beiden großartigen musiker lässt für mich nur den einen schluss zu: musiker an die macht! Weltweit!
Ich schreibe dies hier, da im erwähnten interview-artikel keine kommentarfunktion aktiviert ist.
Norbert klinge
Sie haben es nicht verstanden. Ihre Kritik greift völlig ins Leere. Sie interpretieren in die PK und in einzelne Aussagen ihre persönliche Meinung. Und ich möchte es deutlich sagen: Ihre Interpretation der PK sind eine Frechheit, ich denke, weil Sie das mœrs festival und seine Macher als auch die politisch Verantwortlichen nicht kennen. Ansonsten sind ihre Worte zu Tim Isfort, Jeanne-Marie Varain, Christoph Fleischhauer, Mark Rosendahl und Wolfgang Thoenes nicht zu verstehen. Schade, Herr Norbert Klinge.
Ich freue mich immer über konstruktive kritik. dazu gehört für mich natürlich auch eine inhaltlich-argumentative bezugnahme. die vermisse ich hier komplett.
für meine EMPFINDUNGEN, wie das katastrophen-vorschaubild zum film von der diesjährigen pressekonferenz in moers bei MIR angekommen ist, muss ich mich – muss sich niemand – rechtfertigen. wahrnehmungen, empfindungen sind die basis, aus denen dann eine – durchaus diskutable – meinung resultieren kann. und zu meiner begründeten MEINUNG zu einigen aus meiner sicht geschmacklosen äußerungen auf der moerser pressekonferenz stehe ich. da sehe ich mich auch d´accord mit den autoren in der JAZZTHING, die die äußerung von herrn rosendahl, „In moersland würden Bomben und Raketen dahin zurückfliegen, wo sie herkamen“ als „arg geschmacklos“ empfinden (https://www.jazzthing.de/news/2022-3-28-51-moers-festival-2022/).
Sie, herr klaus denzer, „denken“ schlicht ins blaue hinein, ich würde das festival und seine macher nicht kennen und ich würde schlicht in die pressekonferenz „hineininterpretieren“: werch ein illtum! ich kenne und schätze das festival und seine macher in seiner wechselvollen geschichte seit 40 jahren. in meiner plattensammlung befinden sich zudem seit den frühen 80ern einige audible schmuckstücke vom hauseigenen moerser plattenlabel. immer wieder ein erstaunlicher genuss, gelegentlich das eine oder andere vinyl von einst mit meinen „heutigen“ ohren zu hören.
na ja, in meiner stellungnahme habe ich auch laut nachgedacht, indem ich ebenso viele fragen gestellt habe. freilich fragen, die mir wohl niemand beantworten wird. wie ich sehe, bin ich auf dem festival-eigenen youtube-kanal betr. dieses konferenzbeitrags der einzige kommentator. und bis jetzt gab es zudem für dieses video nur 409 aufrufe und lediglich 9 likes. und schon stellt sich mir wieder eine frage: ist youtube als eine der kommunikationsplattformen für dieses festival möglicherweise nicht ein bisschen zu antiquiert?
wie auch immer: ich wünsche der diesjährigen ausgabe des moerser festivals als auch seinen verantwortlichen und besonders den musikern gutes gelingen, viel erfolg und den fans viel vergnügen.