In „Caracrass“ klingt ein kurzer Lauf auf dem Tenorsaxofon wie die Sirene eines Polizeiwagens. Die Komposition der „Hyperactive Kid“ erzählt von den Erfahrungen des Trios bei einem Besuch in Caracas, wo die Berliner Musiker von der Militärpolizei abtransportiert und stundenlang verhört wurden. „Boom“ beginnt als Free-Jazz-Collage mit einem pulsierenden Schlagzeug, einer schrägen Linie auf der mit dem Bogen gestrichenen siebensaitigen Gitarre sowie einem schrill schreienden und schnatternden Saxofonlauf. Der Phrase Sampler liefert metallisch grellen Schleifen und Loops. „Hyperactive Kid mit dem Gitarristen Ronny Graupe, dem Saxofonisten Philipp Gropper und dem Drummer Christian Lillinger steigert sich zu einem hyperintensiven Crescendo, das dem Zuhörer buchstäblich den Atem raubt.
Flirrende und immer wieder hypnotisch ostinate Melodiefragmente auf der Gitarre, ein pulsierendes und nach Bass & Drum-Art hart gehämmertes Schlagzeug mit Explosionen der kleinen Bass-Drum in der Zugabe „Hyper“, sowie ein meist expressiv überblasenes, hin und wieder aber auch sanft gehauchtes und fast unhörbares Saxofon kennzeichnen das wilde, zwischen Dynamik-Extremen pendelnde Spiel des Trios aus Berlin.
Ist es Protest oder nur die Lust, sich aus den ausgetretenen Pfaden des mainstreamigen Jazz herauszuwagen? Manches erinnert den älteren Zuhörer an die revolutionären Mittsechziger des vergangenen Jahrhunderts, als die Free-Jazz-Welle aus Amerika herüberschwappte und Musiker wie Manfred Schoof, Alexander von Schlippenbach, Gunter Hampel oder Peter Brötzmann sich aus den harmonischen und rhythmischen Fesseln des Be- und Hardbop befreiten sowie teilweise negierten. Und dennoch gibt es einen Unterschied. Die „Veteranen“ schienen vor einem halben Jahrhundert mit großem Ernst an der Befreiung zu arbeiten. Das junge Trio geht hingegen mit großer Lockerheit und Unbefangenheit sowie einfallsreich und innovativ ins freie Spiel.
Gropper, Graupe und Lillinger verflechten in ihren Kompositionen Notiertes und Improvisiertes nahtlos in äußerst enger Dichte und Komplexität, ohne dass es angestrengt wirkt. Der Pianist Joachim Kühn umschrieb dies treffend mit dem Kommentar „Die Band atmet zusammen“.
Traumhaft sicher sind die Interaktionen der Drei sowohl in den sanften und melodischen Passagen als auch in den chaotisch wirkenden Crescendo-Kollektiven. Das Fehlen eins Basses in diesem Trio macht Graupe auf seiner siebensaitigen Gitarre wett, wenn er erdige Linien und den tiefen Lagen zupft. Oftmals beißt er sich an einer kurzen Akkordfolge fest, mit der er ostinat die expressiven Saxofon-Stakkati von Gropper unterlegt. Dann scheint Lillinger mit harten Schlägen auf den Trommeln und deren Rändern sowie mit den vielfältigsten Perkussionsinstrumenten von der Kinderrassel und dem Elektroquirl bis zum Blechteller und den Holzglocken gleichsam zu explodieren.
In diesem Trio gibt es keinen Chef. Alle drei Musiker sind gleichberechtigt. Dieses und eine offensichtliche Seelenverwandtschaft lässt das Trio zu einer der innovativsten und aufregendsten Formationen des zeitgenössischen Jazz avancieren. Mit dem Konzert setzt die Rüsselsheimer Jazzfabrik ihre Reihe „Jazz in Progress“ würdig fort. „Hyperactive Kid“ hätte mehr Zuhörer verdient als die überschaubare Schar, die sich mit offenen Ohren auf Experimente einlässt.