Geburtstage, Frauen, Visuelles
Als typisches Charakteristikum der österlichen Jazztage in Stuttgart bleibt, dass vertraute Künstler-Freunde des renommierten Theaterhauses eine konzertante Geburtstagsfete abfeiern dürfen. Bei der niveauvollen Eröffnungsveranstaltung war wieder Joachim Kühn der Glückliche. Hatte der zwischen zarten Impressionismen und vehementer Ekstase agierende Pianist vor fünf Jahren bei seinem 70ten noch die Altmeister Archie Shepp und Michel Portal im Schlepptau, so scharte der am 15. März 1944 in Leipzig Geborene arrivierte Newcomer um sich. Aber sein bald 90-jähriger Bruder Rolf Kühn (* 29.09.1929) gehörte beides Mal zu den beherzten Gratulanten – bewundernswert, wie kraftvoll und konzentriert der Klarinettist nach wie vor seine bebopartigen Linien präzise phrasiert und artikuliert.
Nicht von historisierender Nostalgie, sondern von zeitloser Aktualität war das Ständchen in eigener Sache geprägt. Neben ein paar Fremdkompositionen (beispielsweise von Ornette Coleman und „The Doors“) wurden bewährte Stücke von Joachim Kühn aufgefrischt. Trompeter Till Brönner gefiel, ganz unpopulistisch, durch seine zupackende Weise, und auch das französische Erfolgsduo mit dem wendigen Knopfakkordeonisten Vincent Peirani und dem virtuosen Sopransaxophonisten Emile Parisien, der zuweilen Zirkularatmung praktizierte und einen Sidney-Bechet-Sound nicht verschmähte, beeindruckte durch eine immense Intensität. Über eine variable Ausdruckbreite verfügt der junge luxemburgische Tenorsaxophonist Maxime Bender. Joachim Kühn (75) versprach am Ende der pausenlosen interaktionsfreudigen Dreistundenperformance verschmitzt, auch seinen 80. Geburtstag im Stuttgarter Theaterhaus feiern zu wollen.
2014 gehörte Majid Bekkas zu Kühns gratulierenden Mitspielern, jetzt trat der Marokkaner bei einer parallel ablaufenden Veranstaltung in einer kleineren Halle des Theaterhauses an. Mit seiner dreisaitigen Basslaute Guembri war er willkommener Gast bei dem hochenergievollen Quartett „Web Web“ um den kommunikativen Keyboarder Roberto Di Gioia und den versierten Saxophonisten Tony Lakatos (Sopran, Tenor).
Jubelstimmung auch bei dem Bassisten Veit Hübner und dem Pianisten Ralf Schmid – die beiden Baden-Württemberger begingen auf der Bühne jeweils ihren 50. Geburtstag. Eine würdige Trauerfeier wurde allerdings für den englischen Drummer Jon Hiseman (1944-2018) abgehalten. Vom „United Jazz + Rock Ensemble“ ehrten ihn als langjährige Kollegen der Trompeter Ack van Rooyen (89) und der Pianist Wolfgang Dauner (83).
Hisemans Witwe, die vor über einem Jahrzehnt schlimm an Parkinson erkrankte Saxophonistin Barbara Thompson, ließ es sich tags zuvor nicht nehmen, dem Auftritt der New Yorker Frauenband „Sheroes“ beizuwohnen. Unter der Leitung der komponierenden Klavierspielerin Monika Herzig, wie ihre Sextett-Genossin Leni Stern aus Deutschland stammend, vollführte die „feminin-heldenhafte“ Gruppierung mitunter auf Gospel und Zahlenspielereien basierende fulminante Musik, wobei vor allem die gebürtige Israelin Reut Regev mit einer tiefgründig fetzenden Posaune herausstach.
Schon 1987 hieß das Motto vom Osterjazz, damals noch im Stuttgarter Stadtteil Wangen, „reichlich weiblich“. Damen-Dominanz herrschte jetzt zudem mit der Big Band der Gitarristin Monika Roscher und den Ensembles von Tamara Lukasheva (Gesang) und Julia Hülsmann (Piano). Zudem war bei der inzwischen traditionellen „London Jazz Night“ das weibliche Geschlecht reichlich vertreten – Respekt!
Die bewusste Einbeziehung von visuellen Komponenten gerät zunehmend zu einem weiteren Markenzeichen des von Werner Schretzmeier und Wolfgang Marmulla kompetent kuratierten Festivals. Da wurde der mit knitzen Zeichentrick-Sequenzen ergänzte Film „It Must Schwing“ über das Blue-Note-Label präsentiert, und ein sechsköpfiges Ensemble um den französischen Kontrabassisten Renaud Garcia-Fons gestaltete notengetreu die Musik „live“ zu dem märchenhaften Silhouettenstreifen „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von Lotte Reiniger. Zu dem „action painting“ des Iraners Mehrdad Zaeri musizierte der „elektronifizierte“ Bassist Kurt Holzkämper.
Neben interessanten Eigenproduktionen übernahmen die Jazztage oben auf dem Pragsattel, wo übrigens in ferner Vergangenheit ein Trump-Tower errichtet werden sollte, auch fertige Tournee-Programme. Wie zwei Tage zuvor in der Berliner Philharmonie (mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bassbariton Thomas Quasthoff als prominenten Zuhörern), entpuppte sich das schwedisch-deutsche Quartett „4WD“ als Knaller. Der Act des auch singenden Posaunisten Nils Landgren, des Bassisten Lars Danielsson, des Pianisten Michael Wollny und des Schlagzeugers Wolfgang Haffner stieß bei der schwäbischen Jazzgemeinde auf begeisterte Resonanz. Ebenso erging es zum Finale dem Trio des Pianisten Martin Tingvall.
Der Norddeutsche Rundfunk war im tiefen Süden mit seiner Big Band präsent – und zollte Tribut an das berühmte Carnegie-Hall-Konzert von Benny Goodman am legendären 16. Januar 1938. Den Klarinettenpart übernahm dabei zuverlässig Fiete Felsch, der wie Till Brönner und seine Orchestermitstreiter Christopher Dell (Vibraphon), Ingmar Heller (Bass) und Ingolf Burkhardt (Trompete) 1987/88 beim allerersten „BuJazzO“ unter Peter Herbolzheimer beteiligt war. Dirigent Jörg Achim Keller erinnerte mit knappen Worten an diese rühmliche Jazz-Episode und kreierte eher ein modernes als ein altertümliches Klangbild.
Unbändige Lebensfreude entfachten auf zwei edlen Bösendorfer-Flügeln die beiden Kuba-Emigranten Omar Sosa und Marialy Pacheco, der spanische Altsaxophonist Antonio Lizana bewährte sich als emotionaler Flamenco-Vokalist – und ließ einen nicht vorhandenen speziellen Gitarristen in seinem Quintett vergessen.
Begrüßenswert, dass bei all der globalen Kultur mit ihren Welt-Stars die einheimische Szene mehrfach berücksichtigt wurde. Jürgen Walter hat als (ehemaliger) Staatssekretär im baden-württembergischen Kunstministerium initiiert, dass Jazzfestivals einen staatlichen Zuschuss von 8 000 Euro erhalten, wenn eigene Künstler des Landes engagiert werden. Und der zuverlässige Hauptsponsor, die Mercedes-Benz Bank, wartete gar mit einer eintrittsfreien Matinee mit dem von Posaunist Eberhard Budziat angeführten „Daimler Classic Jazz Orchestra“ auf.
Unter dem Sammelbegriff „Local Heroes“ stellten sich am Ostersonntagabend drei formidable Formationen vor, nämlich ein Ensemble von dem Kontrabassisten Axel Kühn („AK Ambience“), ein Trio mit Beck/Bebelaar/Janke und die Combo des jungen Bassisten Jakob Obleser (Marbach am Neckar). Insgesamt 16 Events von Gründonnerstag bis Ostermontag, und die insgesamt 6600 Besucher lasteten die Konzerte zu 85 Prozent aus, rechnete schlussendlich Werner Schretzmeier beglückt vor.
Text und Fotografie von Hans Kumpf – Kumpfs Kolumnen