Vielleicht ist es eine Art Hassliebe zur Schönheit des Harmonischen gepaart mit dem Aufbegehren gegen die Tradition und der Suche nach neuen Klängen, die Musiker des zeitgenössischen Jazz zurück auf die Wurzeln des deutschen Liedgutes greifen lässt. Der deutsche Bassist Dieter Ilg hat vor einigen Jahren Volksweisen vergangener Jahrhunderte neu interpretiert, der Pianist Ulrich Gumpert bearbeitete in seinem Solokonzert in der Rüsselsheimer Jazzfabrik neben eigenen Kompositionen ebenfalls deutsches Liedgut. „Der Maie, der Maie“ brachte den Zuhörern in der Opelvillen nicht nur der Blümlein viel, wie es Hans Sachs um 1550 dichtete, sondern auch die Begegnung mit einer Form musikalischer Dialektik des dreifachen Aufhebens – des Bewahrens, der Auflösung und des Emporhebens auf eine neue Stufe.
So sitzt Ulrich Gumpert, der schon in der früheren DDR unter anderem mit Synopsis und dem heutigen Zentralquartett zu den Wegbereitern des freien Jazz zählte, an dem kleinen Yamaha-Flügel, spielt mit ostinaten Bass-Figuren der linken Hand und der liedhaften Melodielinie der rechten das Thema an, variiert und verfremdet das harmonische Gerüst, fügt die Verwandlungen zu einer beschwörenden Hymnik zusammen und zerfasert letztlich auch das ostinate Fundament, bevor er in freien, eruptiven und rasend schnellen Läufen förmlich explodiert, Akkordreihungen hart anschlägt, um schließlich wieder zum Thema zurückzukommen, das mit einem percussiven Handschlagen im Innern des Flügels ausklingt.
Auf ähnliche Weise spielt Gumpert– passend zum vor dem Konzertsaal herrschenden Wetter – auch mit dem Material von „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht“, ein Traditional, das möglicherweise auf ein elsässisches Lied zurückgeht und von Mendelssohn Bartholdy in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Noten gesetzt wurde: Zunächst unmerkliche Verschleppungen und Verfremdungen, eine Improvisation, die sich vom Ursprungsmaterial entfernt, das Metrum auflöst und nach einem rollenden Akkordrausch zum Thema wiederfindet.
„Nach dieser Befreiung (im Free-Jazz) müssen natürlich wieder konkrete Formen gefunden werden“, hat Ulrich Gumpert einmal seine musikalische Grundhaltung definiert. „Man kann sich nicht nur einer Sache entledigen, man muss auch etwas Neues hervorbringen. Das ist ein revolutionäres Prinzip.“
Diese Überzeugung prägt das Solospiel des Pianisten, der 2005 für seinen eigenwilligen Personalstil, in dem er Erfahrungen des Jazz und der europäischen Musikgeschichte verknüpft, mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurde.
In Rüsselsheim beginnt er seine „Sonata al dente“ mit einigen hingestreuten Single-Note-Trauben, ungedämpft und nachhallend, aber hart in Anschlag. Nach einer langen Attacke mit wenigen Bassgrundierungen, nervös pulsierenden Griffen meist in den Mittellagen und grellen High-Notes, schiebt Gumpert einen sanfteren und dunkel timbrierten Mittelteil mit einem schwebenden Ausklang ein, bevor er erneut aggressiv klingende Akkorde aneinander reiht, mit einigen Handballen-Clustern Akzente setzt und die Akkordgriffe der weit gespreizten Hand mit Handkantenschlägen auf der Tastatur untermalt. Eher lyrisch und verspielt ist eine Komposition, in der angerissene Saiten im Flügel die Stimmung prägen. Es ist, wie gesagt, die Lust am Kontrastieren, am Widerprüchlichen, die die Kompositionen sowie die Härte und Aggressivität des Anschlags, die das Spiel Ulrich Gumperts kennzeichnen. Die Zuhörer waren begeistert und spendeten frenetischen Beifall.