Alles, außer Stillstand – das moers festival 2023

Üppig ist das Moers Programm schon immer, selbst bei bestem Willen hat man kaum eine Chance das komplette Programm nur annähernd bei wachen Sinnen mitzunehmen. Ganz davon abgesehen, dass es Überschneidungen im Programm gibt und auch @thesametime – Konzerte, bei der an unterschiedlichen Orten nur die Musiker per Kopfhörer verbunden sind – bestenfalls nachträglich komplett im virtuellen Moersland wahrzunehmen sind.

Moers 2023 - Photo: Frank Schindelbeck

Was bleibt dem Besucher als Festival-Strategie? Vielleicht zu versuchen mit einem geliehenen Moersbike von Spielstätte zu Spielstätte zu strampeln. War möglich, wenn man eines der heißbegehrten Gefährte ergatterte. Schwierig.

Bleibt in der Realität eher Reduktion und Konzentration. Konzentration auf das Persönlich Wesentliche: soll es ein Ligeti-Wochenende werden? Lässt man sich vor allem auf die Einladungen der Improvisation ein, in Jan Klares kuratierten Sessions und den sich spontan während des Festivals zwischen den Musikerinnen und Musikern ergebenden Annex-Sessions? Bleibt man einfach weitgehend am Rodelberg und in der Enni-Halle bei Konzerten zwischen Avantgarde und alten Recken wie David Friedman, Billy Hart oder Gary Bartz? Womöglich nimmt man sich oder findet die Zeit für eine der discussions oder lässt sich in den kleinen städtischen Spielstätten moersifizieren. Oder man bleibt gleich zuhause und schaut später aus der Distanz ins virtuelle Moersland? Die schlechte Nachricht: dort ist immer noch nicht viel los.

Die gute Nachricht: einer der Festivalvorschläge, das „Zusammensein“, funktionierte im Real Life richtig gut. Der Kern der zahlenden Festivalbesucher war die eine Seite (tendenziell erfreulich: ein Drittel mehr Besucher als im vergangenen Jahr, 93% der Vorpandemieniveaus erreicht, Luft nach oben), die offensichtlichliche Attraktivität des Festivals als Ausflugsziel für „Nichtfestivalbesucher“ die Andere. Individualität gehört eh schon zur neuen Bürgerlichkeit aber in Moers trifft sich eben noch etwas mehr „Rand“ und im Gemenge wird es eine gute Mischung.

Wer am Stand des Trompeters Bart Maris, mit Musikinstrumenten zum Ausprobieren für die Jüngsten vorbeikam, der wurde schlagartig optimistisch, was den Jazznachwuchs aktiv und passiv für Moers 2040 und danach angeht: eine herzerwärmende Kombination von Spielfreude und glücklichen Gesichtern. Für 2040 rechnen die Veranstalter übrigens laut Banner am Festivalzaun auch mit dem Abschluss der lästigen Enni-Halle Baustelle…

Moers 2023 - Photo: Frank Schindelbeck

Das „Zusammensein“ war explizit Teil des diesjährigen Festivalmottos, komplett: „Jazzfestival für Musik / Synapsenbildung / Politik / Medienkunst und: Zusammensein!“. Ein „Jazzfestival für Musik“ ist schon einmal eine feine Formulierung und mit der „Synapsenbildung“ begaben sich die Festivalmacher in neurowissenschaftliche Sphären: die ständige Neuvernetzung von Nervenzellen im Gehirn wird gefördert von neuen Eindrücken und – ja, klar – Zusammensein, Vernetzung. Die neuen Eindrücke sind der Kern von improvisierter Musik und Experiment. Auch des sich Einlassens auf neue Eindrücke.

Das Mini-Festival im Festival „Mono-No-Aware“ war ein fantastisches Beispiel. Schon vor der Halle: laut. In der Halle: ohrenbetäubend laut. Musik, Geräusch, Performance, Inferno. Viola Yip mäandert im grüntransparenten Soundanzug und kreiert dynamische elektronische Soundlandschaften neben und mit ihrer Duo Partnerin Noa Even am Saxophon. Nina Garcia tanzt vor der Box in den tösenden Feedbacks ihrer E-Gitarre, Danny Orlowski von den Deli Girls windet sich auf der Bühne und brüllt alles heraus, was an Wut in ihr steckt. Sind wir damit auch beim politischen Teil des Festivals gelandet? Sicher. Queerness, Rage against the system, war alles mit dabei, er zeigte sich aber auch subtiler und weniger wütend in der Gesamtheit des Moers Festivals: schon von den Multikulti-Futter- und Verkaufsständen rund ums Festival vor allem auf den Bühnen: dort trafen sich internationale Musikerinnen und Musiker aller Couleur „zwischen Mut und Demut“ , vernetzten sich untereinander aber eben auch mit ihrem Publikum. Gefördert von der ständigen Bewegung zwischen den zu erlaufenden Spielstätten und zentral bei den Sessions im Hof des Gymnasiums.

Moers 2023 - Photo: Frank Schindelbeck

Musikalische Highlights zu nennen ist subjektiv: Eve Rissers Red Desert Orchestra ist live noch besser als auf CD, mit African Roots und europäischen Bläsersätzen mit einem unwiderstehlichen betörenden Flow. Überraschend „besonders“ das Ensemble Icosikaihenagone, ein rund 20-köpfiges Orchester in der Enni-Halle, frei und ultradynamisch.

Moers 2023 - Photo: Frank Schindelbeck

Sehr„anders“: Laura Cocks solo an der Querflöte am Rodelberg, für mich die Neuentdeckung einer Musikerin und Neuvermessung eines Instruments, mit Einsatz von Stimme und Körper für experimentellen Spieltechniken wie Multiphonics. Eine Bereicherung auch als Mitglied der Formation Eddy Kwon + Sun Han Guild. Der/die Bandleader an Violine und als Vokalist und ausdrucksvoller Tänzer im Sommerkleid in seiner Identität schillernd wie auch die Musik. Seltsam und fulminant auch lange nach Mitternacht fesselnd.

Viele der Sessions wie gewohnt umwerfend, das Kondensat am Rodelberg auch trotz krankheitsbedingtem Ausfall von Liz Kosack druckvoll, die Sister + Brotherhood von Baby Sommer begeisterte und war eine Reminiszenz an deutsche Jazzgeschichte.

Und dann gab’s noch ein Special auf dem Rodelberg: Tim Isfort hatte in Fitzcarraldo-Manier einen Flügel hinaufschaffen lassen und Pianist Ethan Iverson gab sich bemützt neben einem Lagerfeuer am Instrument die Ehre. Round Midnight schon deutlich nach Midnight: Gänsehautmoment in der Kühle der Nacht. Allein für solche Erlebnisse lohnt sich der Weg nach Moers. Der Termin fürs kommende Jahr ist wie immer schon fixiert: Pfingsten, 17. bis 20. Mai.

Moers Festival 2023 – Photos: Frank Schindelbeck

PS: In Moers dreht sich das Rad auch direkt nach dem Festival weiter. In der Improviser-Residenz sind die Gastkünstlerinen Elisabeth Coudoux und die Künstlerin Tina Tonagel zugange, schon am 11.6.

Das Projekt von Tina Tonagel und Elisabeth Coudoux vereint digitale und analoge Technologien zu einem in sich geschlossenen Bühnen-Szenario. Eine audio-visuelle Performance mit antikem Violoncello, traditioneller Pferdekopfgeige, historischem Tageslichtprojektor, kinetischen Objekten, selbstgebauten Instrumenten, elektromechanischen Installationen und einer Portion Humor.
Drone. Experimental. Elektronik. Schlager-Pop. Spectral Music. TRASH.

FraukeFranke50Kilohertz
SONNTAG, 11. Juni 2023 in der Improviser-Residenz, Kleine Allee 10, 47441 Moers
Gastkünstlerinnen: Elisabeth Coudoux und Tina Tonagel
Start um 19:00 Uhr – wie immer: Eintritt frei!

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