„Kein anderer Saxophonist unserer Zeit ist so wie Lovano in der Lage, die ganze Geschichte des Instruments zu umgreifen und gleichzeitig individuell und aktuell zu klingen“, sagt Jim McNeely, Leiter der Bigband des hessischen Rundfunks. Als das hr-Orchester Joe Lovano 2014 einlud, schlug dieser vor, eine Hälfte des Konzertes John Coltranes legendärer Suite „A Love Supreme“ zu widmen, die ein halbes Jahrhundert zuvor eingespielt worden war: „Es war eine großartige Idee“, erinnert sich McNeely.
„A Love Supreme“ ist das berühmteste Album des Jazzsaxophonisten John Coltrane und wurde 1965 veröffentlicht. Die in Form einer viersätzigen Suite geschriebene Komposition gilt bis heute als Coltranes Meisterwerk. Sie wollte ein Loblied auf Gott sein und stellte den vorläufigen Schlusspunkt von Coltranes Forschungsreise in die Welten der Töne und des Geistes dar.
Kann ein solches Werk, das für eine kleine Formation geschrieben wurde, für eine moderne Big Band transkribiert werden? Dem Arrangeur Jim McNeely ist dies meisterhaft gelungen. Der Leiter und Dirigent der hr-Bigband konnte sich auf die Präzision und Musikalität seiner Instrumentalisten verlassen und auf die einfühlsame Virtuosität des inzwischen 65jährigen amerikanischen Gast-Tenorsaxophonisten Joe Lovano.
Auf „Acknowledgment“ oder „Anerkennung“ folgen „Resolution“ oder „Entschluss“ sowie „Persuance“ oder „Streben“. „Psalm“ ist der gedämpfte, wehmütige Abschluss von „A Love Supreme“. Das Andersartige des Stückes tritt nach den vorherigen Sätzen deutlich hervor. Es lässt sich kaum eine Struktur erkennen: Metrum und Rhythmus sind kaum angedeutet. Durchgehend spürbar ist die Emotionalität des Stückes. Statt eines Beats geben Klavier, Bass und Schlagzeug Atmosphäre vor.
Doch nicht zuletzt McNeelys kongeniale Orchestrierung erweckt in Verbindung mit dem sensiblen Spiel Lovanos den Klassiker glaubwürdig und bewegend zu neuem Leben. Es sind vor allem die schillernden, oft freitonalen, Klangflächen der Big Band, die Coltrane auf eine zeitgemäße Ebene heben. In den Tutti führt der Arrangeur das Orchester und den Gast nahezu ins ekstatische Crescendo. Dabei ist es das exzessive Spiel des Amerikaners, der mal überblasen in den High-Notes, mal sonor in den tieferen Lagen, mal fast traditionell oder hymnisch, aber stets höchst intensiv sein Horn bläst. Manchmal lässt er Atemgeräusche mitklingen. Seinem obertonreiches Spiel mündet meist in rasende Stakkati.
Der 1952 geborene Saxophonist beruft sich auf die Tradition, zeigt aber in der Linienführung und Phrasierung eigene moderne Ansätze. Lovano lebt an diesem Abend in der Musik förmlich auf. Er bewegt sich im Takt, schnalzt mit den Fingern und stößt hin und wieder anerkennende Rufe aus.
Stählern erklingen die Sätze der vier Trompeten, treibend die Rhythmen des Schlagzeugers Jean Paul Höchstädters, ostinat wirken die harmonisch verzwickten Linien des Bassisten David Whitford in dessen ausführlichen Soli sowie sperrig perlend die Läufe des Pianisten Volker Engelberth.
Später arrangiert McNeely den vor der Suite entstandenen Coltrane-Hit „Fifth House“ sowie einige Lovano-Kompositionen, bei denen die Solisten der Big Band ihr musikalisches Vermögen mit dem Gast messen können. Für Charlie Parker hat Lovano die Komposition „Charlie Chan“ geschrieben, plaudert der Saxophonist charmant im Gespräch mit dem Orchester-Leiter. Als Zugabe erklatscht Coltranes berühmte Ballade „Naima“, die als intimes Duo von Saxophon und Klavier erklingt, bevor die komplette Band einsteigt. Das Publikum in gut gefüllten Rüsselsheimer Theater spendet der Bigband und dem Gast Joe Lovano anhaltenden Applaus.
Text und Fotografie von Klaus Mümpfer – Mümpfers Jazznotizen