Fotografie und Interview: Klaus Mümpfer
Emil Mangelsdorff im Gespräch
mit Klaus Mümpfer
Emil Mangelsdorff spricht im Interview über seine im Alter anhaltende Musikertätigkeit und über das Verhältnis zu seinem verstorbenen Bruder Albert.
Bei einem gemeinsamen Konzert im April 1987 spielten Emil und Albert Mangelsdorff zum Abschluss den „Blues an sich“. Dieser Blues war weit mehr als kleinste gemeinsame Nenner der Jazzmusiker. Fast ein Vierteljahrhundert später riss der inzwischen 86-Jährige Emil mit seinem Quartett beim Wormser Festival Jazz & Joy die Zuhörer mit dem „Blues forever“ zu Beifallsstürmen hin. Die Faszination dieser zeitlosen Blueskomposition ist ungebrochen – vielleicht gerade weil sie in jedem Konzert neu erfunden wird.
Emil Mangelsdorff ist Ästhet auf dem weiten Feld des Jazz. Er ist ein Künstler, der mit der Reife des Alters „seinen Charlie Parker“ in fließende Linien einbettet und weit schwingenden Linien entfaltet. Bei seinen Konzerten findet er seit Jahren in dem Bassisten Vitold Reck und dem Schlagzeuger Janusz Stefanski sowie dem Pianisten Thilo Wagner kongeniale Partner. Besonders der Kontrast zu den verschleppenden und verqueren Tastenspiele Wagners unterstreicht die auch in schnellen Läufen cantablen Linien auf Mangelsdorffs Altsaxophon. Mit 86 Jahren und in einem anhaltend aktiven Musikerleben mit zahlreichen Ehrungen – unter anderem mit der Goethe-Plakette, der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen, dem Hessischen Jazzpreis und dem Bundesverdienstkreuz – blickt Emil Mangelsdorff im Interview mit dem Jazz-Podium zurück und voraus. Mit dabei ist seine Ehefrau Monique.
KM: Warum steht ein Musiker mit 86 Jahren noch auf der Bühne?
Emil: Ich habe Spaß an der Musik. Wenn ich morgens gefrühstückt habe und übe anschließend mit dem Instrument, dann macht mich das glücklich. Musik ist eine so komplexe Sache. Da hat man noch einen Berg von Aufgaben vor sich, die man sein ganzes Leben lang nicht bewältigte. Diese Herausforderung würde ich aber erst in zweiter Linie sehen. In erster Linie ist es der Lustgewinn, wenn Musik immer wieder neu entsteht. Ich siele nicht des Auftrittes oder des Publikums wegen. Wenn meine drei Mitstreiter gut drauf sind, dann habe ich eine Riesenfreude an der Musik. Jazz zu spielen, ist ein Spaß, den ich sehr ernst nehme.
KM: Dann bereiten offensichtlich auch die drei Stunden tägliches Üben noch immer Freude?
Emil: Ja. Vollkommen. Es sind zwar nicht immer drei Stunden. Manchmal ist es nur eine, wenn man körperlich noch ein wenig vom Vorabend gestresst ist. Dafür wird ein andermal wird eine Stunde drangehängt. Dann sind es eben vier.
Seine Ehefrau Monique nickt auf die Frage „Das kannst Du sicher bestätigen?“ zustimmend.
KM: Was empfindest Du als Glück?
Emil: Ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werde. Ich glaube, dass die Liebe zur Musik damit zu tun hat. Bei der geistigen Arbeit und der Auseinandersetzung mit der Kunst entstehen wohl lebenserhaltende Vorgänge.
Monique: Ich meine, die stetige kreative Herausforderung hält jung. Emil spielt nie ein Stück ein zweites Mal gleich. Es entsteht immer wieder neu.
KM: Auch wenn ein Musiker mit 86 Jahren noch geistig rege sowie kreativ ist und zu improvisieren versteht, so stellt sich doch gerade bei Bläsern die Frage, wie lange sie das erforderlich Luftvolumen und die Kraft zum Spielen aufbringen?
Emil: Ich lese immer wieder, dass bei alten Menschen das Lungenvolumen schrumpft. Ich weiß nicht, wie dies bei mir ist. Ich meine, dass da vieles ineinander greift. Ich glaube mich zu erinnern, dass Ärzte älteren Menschen raten, mit dem Zwerchfell zu atmen. Ich war mit einer Opernsängerin verheiratet und habe von ihrer Atemtechnik gelernt.
KM: Man benötigt solche Atemtechnik vor allem bei der Zirkularatmung?
Emil: Albert beherrschte sie ausgezeichnet. Ich persönlich finde, dass sie der Improvisation ein wenig im Wege steht und glaube nicht, dass sie mich weiterbringen würde.
KM: Kannst Du als Senior mit Erfahrungen in der Geschichte des Jazz, die junge deutsche Szene einschätzen?
Emil: Meine Erfahrungen mit jungen Musikern sammle ich in erster Linie mit Künstlern, die wir bei unseren Konzerten im Frankfurter Holzhausenschlösschen als fünften Mann einladen. Viele der Musiker kommen aus dem BuJazzO oder von Konservatorien. Ich finde es erfreulich, dass diese Musiker keine Vorbehalte oder Probleme mit Standards haben, die ich für den jeweiligen Abend zusammenstelle. Ich glaube, dass die Entwicklung des jungen Jazz in Deutschland stark von solchen Orchestern wie das BuJazzO oder den Landes-Bigbands mitbestimmt wird. Diese Leute sind jung und voller Begeisterung beim Jazz. So habe ich wohl für meine Einschätzung einen ausreichenden Hintergrund. Daneben gibt es Musik, die ich im Radio höre oder bei Festivals, bei denen wir auftreten. Da sind sehr gute junge Musiker zu hören, die sich eine Spielweise erarbeitet haben, die vom Gewohnten abweicht – oder sie lehnen es kategorisch ab, in der Tradition zu spielen. Ihre Motivation kenne ich nicht genau. So entsteht tatsächlich etwas Neues. Doch ich habe irgendwann in meinem Leben festgestellt, dass es mich nicht motiviert oder gar befriedigt, immer das Neueste und Modernste zu spielen, sondern das, was mir gefällt. Da ich den Eindruck habe, dass unsere Konzerte immer sehr gut besucht sind, trifft dies wohl beim Publikum auf Gegenliebe.
KM: Du hast früher zeitweilig zwar Free-Jazz gespielt, bist aber immer ein Traditionalist geblieben? Dass ihr beide Klangästheten seid, ist wahrscheinlich eine Übereinstimmung mit Deinem jüngeren Bruder Albert. Ist das richtig?
Emil: Das wird allgemein gesagt und ist wohl so, obgleich ich zu den Musikern gehöre, bei denen es auch mal losgehen muss. Ich glaube, dies alles kreist um den Begriff „swing“. Das ist es, was uns am Jazz so bezaubert. Wenn man merkt, jetzt geht es los. Ich kann dies eigentlich mit dem Begriff „fliegen“ umschreiben. Wenn sich dies einstellt, dann ist das für den Musiker ein besonderes Ereignis.
KM: Magst Du eigentlich zeitgenössische E-Musik? Hat sie Dich beeinflusst?
Emil: Ich kann mich an die radikale Free-Jazz-Welle erinnern, als um 1965 ein paar junge Musiker sich mit dem Saxofon aufs Podium stellten und irgendwas bliesen. Das hatte mit moderner E-Musik aber nichts zu tun. Ich habe Probleme mit Cage und der Minimal-Music, war aber offen für Berührungen mit Penderecki oder der Schönberg-Schule und ich liebe die Opern von Alban Berg. Wie weit sie mich beeinflusst haben, vermag ich selbst nicht zu messen – um die Wahrheit zu sagen
KM: Wo ist Deine Art zu spielen, verwurzelt?
Emil: Ich nehme für mich in Anspruch, kein direktes Vorbild zu haben. Natürlich gab es manche Vorlieben. Ich weiß, dass ich zeitweise Lee Konitz mehr gemocht habe als Charlie Parker. In den 80er und 90er Jahren hat mich Phil Woods beeindruckt. Aber ich habe nie einen festgelegten Saxofonstil gefunden. Manchmal meine ich, ich klinge wie eine Trompete. Also: Ich habe mich nie festgelegt.
KM: Aber Dein melodisches und singendes Spiel ist unverkennbar.
Emil: Ich würde pauschal sagen: Ich spiele tonalen Jazz. Und die tonale Musik ist noch immer nicht ausgereizt. Diese Form der Musik unterliegt offensichtlich einem Naturgesetz – weshalb kleine Kinder eine Tonleiter singen können, ob wohl diese nicht auf gleichen Ton-Abständen basiert.
Monique: Ich freue mich, wenn man die Musik von Emil nicht traditionell, sondern klassisch nennt.
KM: In Interviews kam die Beziehung zu Deinem Bruder Albert selten zur Sprache. Was würdest Du heute rückblickend dazu sagen?
Emil Mangelsdorff betrachtet sinnend ein Foto, das ihn und sein Quartett mit Jo Flinner amPiano, Gerhard Bitter am Bass und Hal Thurmond am Schlagzeug sowie Albert Mangelsdorff als Gast bei einem der selteneren gemeinsamen Konzerte zeigt.
Emil: „Ein Vergleich liegt vordergründig nahe. Aber Albert hat seine eigene Familie gegründet und ich habe mein eigenes Leben gelebt. Albert hat sich mit seinen avantgardistischen Ideen von dem, was mir vorschwebte und ich praktizierte, abgesetzt. Ich würde sagen, dass man nicht zusammenfügen sollte, was sich auseinandergelebt hat.
KM: Ich möchte auch keine Gemeinsamkeiten konstruieren. Außer dem bereits genannten Klangästhetizismus vielleicht. Mir geht es eher um das persönliche Verhältnis der beide jazzenden Brüder.
Emil: Wir waren Brüder und das blieb auch so. Es gab durchaus gemeinsame musikalische Perioden. Wir waren zusammen in Südamerika oder im hr-Jazzensemble, bei dem uns Horst Lippmann betreute. Wir spielten immer wieder zusammen. Aber wir haben uns später auseinander gelebt.
KM: Wann trennten sich die Wege?
Emil: Der effektivste Einschnitt kam, als wir damals noch bei Joe Klimm spielten. Albert wechselte zu Hans Kollers New Jazz Stars und hat mich verlassen. Da waren wir erst mal getrennt. Ich hatte damit ein Problem, muss ich ganz ehrlich sagen. Denn nach der Gefangenschaft (Emil war nach dem Zweiten Weltkrieg einige Zeit in russischer Gefangenschaft) und dem gemeinsamen Spielen dachte ich, so als Geschwisterpaar wäre es doch ganz schön. Aber es hat sich dann durch Albert halt anders ergeben. Das ist mir lange sehr nahe gegangen. Aber wir haben trotzdem zusammen gespielt, wenn ein Veranstalter einen gemeinsamen Auftritt buchte.
KM: Wie sieht es mit aktuellen oder künftigen Projekten aus?
Emil: ich gebe zu, ich habe keine Projekte.
Monique: Aber mit Martin Lejeune willst Du doch etwas machen. Außerdem ist da noch die Reihe im Holzhausen-Schlößchen, bei dem das Quartett stets mit einem fünften Musiker ergänz wird und um dessen Fortsetzung wir wegen der Renovierung bangen.
Emil: Das ist richtig. Dennoch habe ich grundsätzlich etwas dagegen, dass sich Veranstalter oder Rundfunkanstalten von dem Begriff Projekt so stark beeindrucken lassen. Da kündigt ein Musiker ein Monk-Projekt an und schon ist er unter Dach und Fach und hat einen Job.
KM: Ich meine mehr, womit Du Dich gegenwärtig beschäftigst.
Emil: Lee Konitz hat einmal mit Streichern zusammen gespielt. Das waren leider nur sechs Leutchen und es klang nicht so besonders. Aber damals kam ich auf die Idee, mit Streichern zusammenarbeiten, weil das auch ein neues Klangerlebnis für mich wäre. Schließlich ergab es sich, dass ich in einem Konzert mit 15 Streichern spielte. Da habe ich Kompositionen von Kurt Weill ausgesucht und arrangieren lassen. Das klang gut und hat mir viel Freude bereitet. Jetzt hoffe ich, dass ich mit einem Streicherensemble eine CD aufnehmen kann.
KM: Wie sieht es mit den gemeinsamen Auftritten mit Fritz Rau und Berichten aus der Nazi-Zeit aus?
Emil: Wenn Anfragen kommen, würde ich weitermachen. Leider ist das Interesse nicht mehr so groß. Das ist bedauerlich, denn es wäre nötig, dass gerade die Jugend, die nach rechts driftet, etwas darüber erfährt, wie man in einem totalitären Staat lebt. Alle Kompetenzen des Menschen, auch soziale, werden in und mit der Musik entwickelt.
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