Von Wunder-Twens bis 80+ mit Nostalgie und Neuem
Unter dem Motto „be JAZZ be OPEN“ versprach das mehr oder weniger swingende Stuttgarter Sommerfest in seiner 24. Runde „über 40 Acts an 10 Tagen auf 6 Bühnen“ und resümierte schlussendlich: „34 000 Gäste feierten internationale Stars, Grammy-Gewinner und spannende Neu-Entdeckungen. Die Bühnenauslastung lag bei 90 Prozent.“ Zweifellos vollbrachten Promoter Jürgen Schlensog und sein Team erneut in Sälen und vor allem „open air“ eine logistische Meisterleistung, wobei Jazz an sich freilich nicht durchweg eine dominante Rolle spielte.
Immerhin präsentierte das erfreulicherweise ausverkaufte Finalevent auf dem Ehrenhof des Neuen Schlosses vertraute Jazz-Stars: Dee Dee Bridgewater und George Benson. Die Vokalistin, die an gleicher Stelle im Jahre 2013 mit dem smarten Pianisten Lang Lang an der Seite und dem damaligen Radio-Sinfonieorchester Stuttgart im Rücken aufgetreten war, agierte fulminant wie stets, während sich Gitarrist Benson vor allem als Schmuse-Sänger betätigte. Mit „Quincy Jones & Friends“ war das Festival-Eigengewächs betitelt. Im Vorfeld wurde gerätselt, welcher Art es der erfolgreiche Produzent von Miles Davis und Micheal Jackson musikalisch treiben werde. Würde der jetzt 84-Jährige nochmals zur Trompete greifen – wie einst bei Lionel Hampton und Count Basie? Nein, Quincy Jones beschränkte sich auf relativ kurze Ansagen für seine Weggefährten und seiner schon nostalgischen Arrangements, die durch die SWR Big Band und das Stuttgarter Kammerorchester noblen Glanz erhielten. Bei der geplanten Zugabe übernahm Jones das Dirigat von dem bewährten Briten Jules Buckley und zelebrierte mit den Solisten an der „front line“ den bluesigen Klassiker „Let The Good Times Roll“. Mit dabei auch der von Quincy Jones protegierte Engländer Jacob Collier (20), der mit sonorem Bariton als auch im Falsett beeindruckte und versiert an den Tasten von Flügel und Celesta agierte.
In den vier Tagen zuvor füllten vor allem Figuren der Kommerz-Musik den bis zu siebentausend Personen fassenden Schlossplatz, so auch der immer noch stimmgewaltige Tom Jones, der tags zuvor in Montreux seine berühmte „Sex Bomb“ platzen ließ. Zum vierten Mal wurde in „Stuttgarts guter Stube“ nun Publikumsmagnet Jamie Cullum gefeiert, der – wie gewohnt – vokal und multi-instrumental seine rasante Show ablieferte. Vor ihm war die sich selbst am Piano und auf der Gitarre begleitende Norah Jones mit ihrer Combo an der Reihe. Die amerikanische Tochter von Ravi Shankar sang allerdings ziemlich monoton im Timbre primär Country-(Mittel-)Mäßiges. Aufregender als deren Darbietung geriet freiluftig der ständige Wetterwechsel zwischen Sonnenschein und Regentropfen…
Als neuen Veranstaltungsort konnten die Jazzopen den Renaissance-Innenhof des benachbarten Alten Schlosses gewinnen. Mit dem Premium-Sponsor Mercedes-Benz ging ja auch dessen geschätztes Amphitheater vor dessen Museum in Bad Cannstatt verloren (nun ist der Münchener Rivale BMW in die finanzielle Bresche gesprungen). Freilich verlangen die den Schalldruck mächtig reflektierenden Massivsteinwände des antiken Schlossgemäuers eigentlich nach dezent ausgesteuerter Musik. Doch in der heutigen Residenz des Landesmuseums Württemberg lagen vorsorglich Ohropax-Päckchen bereit, und die wertvollen Kunstgegenstände in den Vitrinen mussten eben zittern.
Starke Phongrade entwickelte der funkige Saxophonist Kamasi Washington, der in Oktettbesetzung anrückte. Vital und stilübergreifend gibt sich seine bis zum Bruitismus ausufernde Musik, auf dem Tenor demonstriert Washington langen Atem allemal. Auf triviale Momente könnte man allerdings getrost verzichten.
Einhelliges Lob – von Laien und von Fachleuten – wurde der abwechslungsreichen Herbie-Hancock-Performance im mittelalterlichen Ambiente zuteil. Ob italienischer Fazioli-Flügel, Synthesizer, E-Piano oder Umhänge-Keyboard – seine Musik geriet offensichtlich meisterhaft und wegweisend, mit 77 Jahren… Hancock zur Seite stand u.a. der afrikanische Gitarren-Virtuose Lionel Loueke.
Zwiespältigen Widerhall fand ja vor drei Jahren auf dem großen Schlossplatz Hancocks Duoauftritt mit dem kurzatmigen Wayne Shorter, der sich seinerzeit auf das Sopransaxophon beschränkte. Der 1933 geborene Bläser griff heuer zu Beginn seines eigenen Konzerts in der Liederhalle zum eigentlich kraftvollen Tenorsax. Aber auch hier intonierte er nur zaghaft kleine Tonfolgen und konnte im Quartett keine impulsgebende Führungsrolle übernehmen. Professor Mini Schulz, selbst universeller Kontrabassist und emsiger Konzertmanager, feierte das Shorter-Ensemble in seiner Ansage als die „großartigste Band unseres Zeitalters“. Getragen wurde die Musik aber wesentlich vom emanzipierten „Begleit“-Trio, nämlich dem Pianisten Danilo Perez, dem Bassisten John Patitucci und dem Drummer Brian Blade.
Zuvor bot im Hegelsaal der Kubaner Jésus „Chucho“ Valdés überaus Schwungvolles, unterstützt von dem Bassisten Gastón Joya und von gleich zwei vehementen Schlagwerkern (Rodney Barretto, Yaroldy Abreu Robles). Das Quartett begann sehr komplex – nicht etwa naiv folkloristisch. Später vereinnahmte man den argentinischen Tango und griff mehrfach in die Zitatenschatztruhe der europäischen Musik. Ausführlich widmete sich Chucho Valdés dem e-moll-Präludium op. 28, das Frédéric Chopin im Winter 1838/39 auf Mallorca komponierte und bekanntlich den Brasilianer Antonio Carlos Jobim zu der Evergreen-Ballade „How Insensitive“ inspirierte.
Als weitere Veranstaltungsorte der Jazzopen dienten wieder das Scala-Theater in Ludwigsburg, das EventCenter des Hauptsponsors Sparda-Bank am Stuttgarter Hauptbahnhof und neuerdings die innerstädtische katholische Domkirche Sankt Eberhard (Pianist Jason Moran mit singender Ehefrau). Zu mitternächtlichen Stunden gab es traditionsgemäß hellwachen Jazz im renommierten Jazzclub Bix, gelegen gegenüber der Leonhardskirche in Stuttgarts ruhigem Amüsierviertel. Da hörte beispielsweise kein Geringerer als Quincy Jones dem flinken wohlbeleibten Hammond-Organisten Joey DeFrancesco zu. Unter die engagierten internationalen Newcomer gehörte auch die 20-jährige Polin Kinga Głyk. Die fingerfertige Bassgitarristin, die als optisches Markenzeichen stets einen breitkrempigen Sonnenhut trägt, betätigt sich als Wirbelwind auf den vier Saiten und betreibt kräftig Marketing auf YouTube. In ihrem Trio bedient Papa Irek das Schlagzeug, und Piotr Matusik sitzt am rockbetonten Keyboard. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses (Ex-)Wunderkind als Erwachsene auf der Jazz-Szene halten kann.
Einen festen Platz in der Programmgestaltung von Jazzopen nimmt der „Playground“ ein. Hier soll der regionale Nachwuchs zum Zuge kommen. Allerdings würde es den jungen Leuten gut tun, wenn man ihre Namen nicht nur auf der Veranstalterseite im Internet (jazzopen.com) erfahren kann, sondern diese auch auf Tafeln oder Handzetteln publik gemacht würden. Stellvertretend für viele soll der Kontrabassist Jan Mikio Kappes genannt werden, der sich nicht scheute, seinen knapp halbstündigen Trio-Set mit einem unbegleiteten Solo zu starten – höchst virtuos, gezupft und mit Bogen. Stilistisch nicht anbiedernd, sondern experimentell klangforschend im besten kreativen Sinne.
Geehrt für sein Lebenswerk wurde im Rahmen des Festivals Abdullah Ibrahim (alias Dollar Brand), 1934 in Kapstadt geboren und zusammen mit Nelson Mandela und Miriam Makeba als historisches Dreigestirn der Freiheitsbewegung Südafrikas geltend. Nun wohnt der komponierende Pianist (auch) am bayerischen Chiemsee, und so wurde ihm zum Auftakt der opulenten Jazzopen-Festtage die mit 15 000 Euro dotierte „German Jazz Trophy“ überreicht. Der Meister bedankte sich mit gewohnt lieblichen Melodien und vergaß dabei auch nicht die Kwela-Musik seiner Heimat.
Text und Fotografie von Hans Kumpf – Kumpfs Kolumnen