Ray Anderson gastierte mit seiner Pocket Brass Band in Esslingen in der Dieselstraße
Der Posaunist Ray Anderson überrascht stets aufs Neue. Vor zwei Jahrzehnten trat er als Youngster an der Seite des intelligenten Free-Jazz-Neuerers Anthony Braxton auf, dann betätigte er sich im Mainstream-Jazz und produzierte Funk und HipHop. Nun nostalgiert Ray Anderson mit New Orleans. Sein jüngstes Projekt ist dem alten Jazz zugetan: seine „Pocket Brass Band“ kokettiert mit den Marching Bands der Stadt am Mississippi-Delta. Das Gastspiel dieses Ensembles in Esslingen bescherte dem Kulturzentrum „Dieselstraße“ ein volles Haus. Die Erwartungshaltung war hoch.
Ray Anderson, Jahrgang 1952, wuchs in Chicago mit Dixieland auf, da sein Vater ein begeisterter Fan des traditionellen Jazz war. So wurden für Ray alsbald Jack Teagarden, Kid Ory und Trummy Young zu den großen Idolen. Zunächst spielte er jedoch in Rhythm ’n‘ Blues Bands.
Seine vierköpfige „Pocket Brass Band“ hat vom Format der Instrumentalisten her keineswegs „Taschenformat“, und standhaft blieb die der Marching-Band-Ableger auf dem Podest der Dieselstraße. Allerdings blieben Anfangsschwierigkeiten nicht unüberhörbar, es haperte gewaltig am präzisen Zusammenspiel. Doch dann raffte sich das All-Star-Quartett doch noch zu einer Einheit zusammen, die im interaktiven Zusammenspiel improvisatorisch glänzte. Ray Anderson versuchte am eindringlichsten, den New-Orleans-Stil zu imitieren, während der eher vorsichtig agierende Trompeter Jack Walrath, der Mitte der siebziger Jahre in der Formation des legendären Bassisten Charles Mingus mitwirkte, doch meist dem Bebop verhaftet blieb. Von der polyphonen und harmonisch streng ausgerichteten Vitalität des Ur-Jazz ging es oft stufenlos zu freitonalen Kollektivimprovisationen über. Aber auch lyrische Momente, wo cooler Jazz mit naturtonhaftem Alphorngebläse zu verschmelzen schien, fanden sich ein.Jon Sass, der dritte Blechbläser im Bunde, wurde mit seiner Tuba wieder einmal zum überragenden Virtuosen. Zuverlässig führte er die akkorddienlichen Baßlinien aus, dann trickste der Tieftöner jedoch mit Mehrklängen und jubilierte in den höchsten Registern.
Am Schlagzeug saß der ideenreiche Bobby Previte, nunmehr brav Marschrhythmen trommelnd. Da man jedoch nicht stumpfsinnig auf „Stomp“ fixiert war, hatte er genügend Gelegenheiten, soundsensibel und polyrhythmisch die Trommelfelle und Metallbecken zu behandeln.
(März 1997)
Text und Fotografie von Hans Kumpf – Kumpfs Kolumnen