Wie mag er aussehen, der Rückblick in ein paar Jahren auf die 50. Ausgabe des Moers Festivals im Jahr 2021? Wurde der per Hashtag verbreitete „Kampf um die Zukunft“ gewonnen? Jedenfalls kam das Festival zum 50. schon einmal nicht allzu historisch daher. Die an einigen Stellen aufgehängten großformatigen historische Bilder aus der Festivalgeschichte ließen die Festivalgeschichte eher dezent aufscheinen.
Das Programm – wie üblich unter dem Festivalchef Tim Isfort – ein Stilmix: von Jazz mit „black roots“ über Ethnojazz aus Äthiopien bis hin zur Free Jazz Komposition für Großformation des letztjährigen Gewinners der „composer kids“, Julius von Lorentz. Gespielt unter anderem von Joe McPhee auf der Hauptbühne.
Augenfreundlich grün war es allüberall. Als Projektionsfläche für überblendete Filmschnipsel im Livestream bei ARTE. Und hippieske Blümchen auf Böden und Kitteln sorgten für die „Anfang der 1970er Jahre“ Optik – definitiv weniger kontrovers als der der berühmte Holzpanzer auf der Bühne, wie beim letzten Festival mit Publikum im Jahr 2019. Aber empirisch erforscht: die Zuseher am TV waren eher genervt, weil die optisch irritierenden Einspielungen den Blick auf Musikerinnen und Musiker und deren musikalische Präsentation störten.
Verspielter und sympathischer: Fantasiefiguren trotteten übers Gelände und spielten mit einem aufgeblasenen Walking-Act R4. Es gab mal mehr, mal weniger skurrile Interviews mit Füßen im Flachwasser und viele kleine Dada-Einfälle die auch zur DNA des Moers Festivals gehören. Aber auch ganz ernst, das gemeinsame Geschirrklappern am Rodelberg, als Zeichen der Solidarität mit den Menschen in Myanmar.
Als Berichterstatter über zwei Tage vor Ort durfte man sich im Regen vor der Open Air Bühne am Rodelberg ebenso tummeln, wie in der überaus locker besetzten – aber: immerhin! – Veranstaltungshalle. Ein Hauch von Festivalleben, das man im Freien sogar an einigen Abenden mit „richtigem Publikum“ teilen durfte.
Die Spielstätte am Rodelberg hat Amphitheaterflair, mit Blick vom Hügel auf eine Holzbühne mit rudimentärem Regenschutz. Ein guter Ort, den man in den kommenden Jahren nicht aus den Augen verlieren sollte. Dort fanden auch die Sessions statt. Durchweg ganz wunderbare Konzerte, die nicht nur die Lebendigkeit eines ein halbes Jahrhundert alten Festivals dokumentierten, sondern vor allem die ungebrochene Kraft einer Musik, die man in Moers schon lange gar nicht mehr versucht unter den Jazz-Hut zu bringen.
Moers Festival Fotos vom 22.5.2021
Im Mittelpunkt: die experimentierfreudige, freie Improvisationsmusik – auch eine Erinnerung an die Zeiten, als der Zusatz „New Jazz Festival“ noch prominent im Festivaltitel zu lesen war. Mit bekannten Gesichtern, wie Joe McPhee, Greetje Bijma, Lauren Newton, David Murray, Hamid Drake oder Han Bennink, die seit Jahrzehnten in allen möglichen Formationen frei durch die improvisierende Musikgszene streifen. Bennink war schon 1972 beim ersten Festival in Moers dabei, und es war eine Freude zu sehen und zu hören, wie er mühelos als Gast beim Trio Picatrix (mit Greetje Bijma) zur Rolle als zweiter Gast-Schlagzeuger der äthiopischen Band Fendika wechselte – ein Universalist am Schlagzeug im besten Sinne.
Das Fantastische: die Musiker sehen etwas älter aus aber die Musik bleibt taufrisch improvisiert und zeitlos modern. Nicht zu den „Alten“ aber den „Etablierten“ darf man Formationen zählen, die das Trio Picatrix (Mary Oliver, Greetje Bijma, Nora Mulder) oder die drei fantastisch im Dialog musizierenden Musikerinnen Lauren Newton, Myra Melford und Joëlle Léandre. „Moers“ übrigens auch ein Beispiel dafür, dass ganz organisch der Anteil von Musikerinnen im Programm wächst, einfach weil sie gut sind.
Im Sumpf der Nostalgie versank das Moers Festival 2021 also nicht. Mit einer jüngeren Generation von Musikern wie dem Gitarristen Julien Desprez, der sich selbst treffender als „Soundartisten“ bezeichnet. Oder mit den Projekten der beiden Improvisers in Residence Kevin Shea und Matt Mottel, die die die jungen freien Kreativen in verschiedenen Kombinationen um sich scharten. Die beiden haben sich umgeschaut, sind durch die Lande gereist, haben unter anderem in München die Band Embryo entdeckt und Marja Burchard und Maasl Maier gleich nach Moers gelotst. Die Resonators, mit Frank Gratkowski, Sebastian Müller, Reza Askari und Thomas Sauerborn könnten als Blaupause für die Musik in Moers stehen: dem freien Jazz noch verbunden, die Musik aber ganz eigen und kraftvoll angereichert mit Rock Elementen.
Die Moers-Sessions ohne Livepublikum, dafür live gestreamt war wie immer die am kreativsten köchelnde Musiksuppe: Überraschende Begegnungen – Embryo Vibraphonistin Marja Burchard mit Joe McPhee oder mit zusammengewürfelten Bands aus dem Pool der Festivalmusikern – herausfordernd für die Musikerinnen und Musiker, pure Hörfreude beim Publikum.
Auch wenn das Label Jazz mittlerweile gerne abgeschüttelt wird, waren am Ende im Programm ausgerechnet die „Jazz-Jazz“-Konzerte mit „alten schwarzen Männern“ besonders beeindruckend: das Joe McPhee im Quartett mit Alexander Hawkins am Piano, John Edwards am Bass und Hamid Drake an den Drums, das David Murray Trio mit Bradley Jones am Bass und (sic!) Hamid Drake am Schlagzeug. Und eben jener Hamid Drake noch in der Session mit Fred Frith und Ex-Improviser in Residence Emilio Gordoa am Vibraphon. Jamaaladeen Tacuma, der auch vor einem ausgedünnten Livepublikum sein spirituelles Solokonzert mit freundlichem Esprit und gewohnter Eleganz auf die Freiluftbühne brachte. Und schließlich ein weiterer Saitenkünstler: John Scofield, nur mit seiner elektrischen Gitarre, der mit reduziert-konzentrierter Klasse mit Beatles, Coltrane und einem Walzer für Ms Scofield das Publikum am Rodelberg verzauberte.
Ja, den Kampf um die Zukunft hat das Moers Festival gewonnen. Mit den Alten, mit den Jungen und mit dem sehr typischen Moersmix, der für alles Mögliche steht, außer für Stillstand.
Moers Festival Fotos vom 23.5.2021
| moers festival
| Moers Festival Programm als PDF (Stand 21/05/11)
Bericht und Bilder satt.
Mehr Moers geht eigentlich nur vor Ort.
Klasse! THX Frank