Es ist gut, die Eindrücke eines Jazzfestivals einige Tage sacken zu lassen. Vor allem wenn die Eindrücke so vielfältig sind, wie beim Moers Festival. Es war eine Veranstaltung der Gegensätze, die alles, nur nicht langweilig war. Von einer gut gefüllten großen Bühne mit WDR Bigband und amerikanischem Saxophonsolisten bis zu den leisen Tönen on Shrutibox und Altsaxophon von Hayden Chisholm im Bürgermeisterbüro. Vom freejazzgesprenkelten Swing des Sun Ra Arkestras in der Stadtkirche bis zu Oli Steidles hart und zeitgemäß mit vertrackten Rhythmen eben auch swingenden „Killing Popes“ auf der Hauptbühne.
Die war in diesem Jahr neu angeordnet, die großen Publikumsreihen schräg versetzt dazu, und davor eine „Teppichwiese“ auf der sich die Zuhörer räkeln konnten. Nicht jeder liebte diese Anordnung, man konnte der tollen Mittelbühne des vergangenen Jahres ein wenig nachtrauern. Wie so vieles in Moers war aber auch dies eine Frage des Geschmacks und der Adaptionsfähigkeit. Ungewöhnliche aktive Musikspots gab es zusätzlich in der Halle: Phil Minton sang und artikulierte sich ebenso mitten unter den Zuhörern auf den Rängen wie der Dudelsack-Virtuose Erwan Keravec („Urban Pipes“). Peter Evans spielte vom Regiegerüst solo ins lauschende Volk. Die beiden letzteren bestachen mit kurzen druckvollen und durchgängigen Sets im Flow.
Die durchs Festival tingelnden Japaner spickten ihre Performances mit skurrilem Humor: mit Zähneputzen im Duo, sekundenkurzen Miles-Davis-Persiflagen oder gelegentlich ruppig angehauchtem Japanrock. Dazwischen Fundstücke: in einem versteckten Zelt ein Quartett um den Bassisten Jonas Gerigk, mit Standtrommel, Geige und Cello im Quartett. Flötistin Dodo Kis auf dem Festivaltruck, Rabatz! an vielen Stellen des Festivals…
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(Warten! Ist groß.)
Panzer auf der Bühne…
Dass Tim Isfort, dem künstlerischen Leiter des Moers Festivals für die theatralische Inszenierung rund um das diesjährige Festival einiges auf die Mütze – oder ist es die virtuelle Narrenkappe? – bekommen würde war klar. Ein riesiger Holzpanzer auf der Hauptbühne, die Festivalansagen aus dessen „Führerkanzel“. Von der Decke baumelnde Kinderschaufensterpuppen, andere, die stumm über dem Publikum schaukelten oder gruselig anmutend mittendrin und neben dem Geräuschkünstler Phil Minton platziert wurden. „Soldiers of Fortune“ – Glücksritter im Text auf den Camouflage-Shirts und in der Interpretation von Isfort, irritierend in der optischen Wirkung mit Assoziationen von Kindersoldaten und Krieg. „Strengt euch an!“ – das Motto des Festivals galt also auch in Hinblick auf die Deutung solcher Zeichen.
Gegen Ende des Festivals stand Isfort auf der Bühne und verkündete, das Publikum habe sich nicht genug angestrengt. Und recht hatte er: das Publikum hätte die Bühne stürmen können, den Panzer zerschlagen oder zumindest sein Mündungsrohr brechen können, bunt bemalen sowieso; solche eine Anstrengung hätte dem Festivalteam vermutlich sogar gefallen. So blieben Irritationen, Anregungen und fragwürdiges Rohmaterial für Diskussionen. Aber auch damit wohl ein Ziel erreicht.
…gekontert von humaner Musik
…nicht nur vom Brasilianer Rodrigo Brandão (spoken word), der seine Botschaft der spirituellen Gemeinschaft aller Menschen wie ein Festivalvirus in gefühlt jeder zweiten Formation verkündete – mit bemerkenswertem Timing und missionarischem Impetus. Auch von internationalen Moers-Spezialformationen. Im Quartett mit Marshall Allen, Günter Sommer, Rodrigo Brandão und Toshimaru Nakamura, bei dem kühle Electronics auf die Saxophonschreie des Arkestra Saxophonisten Allen prallten, schwer vereinbar, und trotzdem hat es funktioniert.
Weitere dieser Höhepunkte waren das Quartett mit der letztjährigen „Artist in Residence“, der Blockflötistin Josefine Bode, die mit Peter Evans, Atsushi Tsuyama und Tatsuya Toshida auftrat. Mit abenteuerlichen Passagen, wenn Bode den flötespielenden Tsuyama vokal begleitete, den entfesselt trompetenden Evans mit schrillen Tönen auf dem Kopf ihrer Flöte anfeuerte und Momente später Ruhe auf der – was war das? Kontrabassflöte? – ausströmte.
Ebenso lebhaft und – schon der Name verrät es – international, das „Global Improvisers Orchestra“. Von Saxophonist Jan Klare zusammengestellt und umwerfend in seiner Spielfreude und Freude am Zusammenspiel – Argentinien, Deutschland, England, Myanmar, USA, Belgien, Weißrussland, Italien, Brasilien. Wie steht es im Programmbüchlein? „Abenteuer einer fairen Weltküche auf Augenhöhe“. Es gäbe noch viele Programmpunkte zu preisen – glücklicherweise gibt es einen großen Teil der Konzerte auf Arte. Der Sender zeigt in den kommenden Monate noch die Videos in der Mediathek. Empfehlenswert dort unter anderem die Auftritte von Chuffdrone, natürlich Lillinger und Kollegen, Abacaxi (Julien Desprez / Jean-François Riffaud / Max Andrzejewski) , Emilio Gordoas M0VE-Quintet und Oli Steidle & The Killing Popes.
Leider nicht in der Mediathek: die Moers Sessions! Jan Klare kämpfte dieses Jahr gelegentlich mit unvorhergesehenen Umbesetzungen aber dem Gelingen tat es keinen Abbruch. Allein wegen dieser Quellen einmaliger kreativer Zusammentreffen muss dieses wunderbare Festival gelobt werden. Musiker, die auf der Hauptbühne in ihren regulären Bands schon Großartiges zeigen, die lassen sich irgendwann deutlich nach Mitternacht – oder auch am Vormittag – auf neue Konstellationen ein, und schenken den Zuhörern die Essenz des Jazz: fantastische freie Improvisation. Müsste ich eine herauspicken, es wäre die mit mit Oli Steidle am Schlagzeug, Gitarrist ST Kirchhoff und den beiden Sängerinnen aus der Formation der Trondheim Voices, Torunn Sævik und Siri Gjaere gewesen: spontane musikalische Interaktion auf einem traumhaften Level.
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