Neugier eint bei diesem Gesprächskonzert zum Thema „Wo steht der Jazz heute?“, Musiker, Publikum und Diskutanten. „Neugier ist ein zentraler Punkt bei der Betrachtung der Musik“, sagt der Saxophonprofessor Claudius Valk unter dem zustimmenden Nicken des Gießener Autors und Jazzpublizisten Hans-Jürgen Linke sowie des Kölner Kritikers und Moderators Thomas Loewner. Dies bestätigen an diesem Abend im gut besetzten Roten Saal der Mainzer Musikhochschule die Zuhörer, die nach dem Auftritt des französischen „Emile Parisien-Quartetts“ und des Mainzer Trios „Idioma“ die Künstler frenetisch feiern sowie die Musiker selbst, die die Grenzen des herkömmlichen Jazz sprengen – die Deutschen eher vorsichtig, die Franzosen konsequent und radikal.
Emotionen seien notwendig und die Fähigkeit zu hören, postuliert Linke, der den gegenwärtigen Jazz an einem Wendepunkt sieht. „Wir wissen nicht, wie diese Musik sich in zehn Jahren anhört und wie wir dann den Jazz definieren. Die Künstler werden auf der Bühne das machen, was sie am besten können.“ Ein flammendes Plädoyer für das Weiterbestehen des Jazz hält Claudius Valk. „Der Jazz ist keinesfalls tot. Er wird sich weiter entwickeln und Identifikationen schaffen, denn er ist eine Individualmusik.“ Zugleich aber lebt der Jazz in der Kommunikation zwischen Musikern und Zuhörern. „Wie hat sich die Situation der Jazzmusiker entwickelt?“, fragt Loewner. „Ich kenne keinen Künstler, der von einem Preisgeld leben kann“, sagt Valk. Linke stimmt ihm zu: Um die soziale Situation zu verbessern, müssten die Live-Gigs gefördert werden.
Neugierig, vital und progressiv unterstreichen die vier Gäste aus Frankreich mit ihrer Musik die Thesen der Gesprächsrunde. Das „Emile Parisien-Quartett“ markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung des zeitgenössischen europäischen Jazz. Ebenso wenig wie anfangs das Trio „Idioma“ hat das Quartett trotz aller Offenheit gegenüber neuen Strömungen nie die Wurzeln der Tradition vergessen. Ob nun „Heimreise“, „Windbuche“ oder „Rodelblitz“, „Idioma“ mit Lukas Moriz am Flügel, Eduardo Sabella am Kontrabass und Pit Marquardt an den Drums pendelt zwischen meditativen und perlenden Läufen sowie harten Akkorden auf dem Piano, pulsierendem, percussivem Spiel mit Besen und Sticks sowie harmonisch reizvollen Linien auf dem großen Saiteninstrument. Während die drei Absolventen der Mainzer Musikhochschule bei aller Freiheit das Bewährte pflegen, sucht der Sopran- und Tenorsaxophonist Parisien mit seinen Partnern Julien Touery, Ivan Gelugne und Julien Loutelier die Klänge und Sounds der Zukunft. Parisien ist ein Visionär, der zwar in der französischen Folklore verwurzelt bleibt, aber den Blick weit nach vorne richtet. Seine teils orgiastischen Interpretationen sind Emotionen pur.
Ob nun „Ellegie pour carte mère“, „Mais yes“, „Chocolat citron“ oder „Daddy long legs“ – die Musik des Quartetts lebt von den Kontrasten sanfter Lyrik und des hoch energetischer Crescendos, rasenden Clustern und tastenden Akkorde des Pianisten Touerry, den ostinaten Linien und schrägen Klängen auf dem gestrichenen Bass von Gelugne sowie den pulsierenden Perkussionen des Drummers Loutelier. Parisien tanzt zu den instrumentalen Ausbrüchen auf der Bühne, lässt sein Saxophon akzentuiert aufschreien. Die Künstler erleben sichtbar und mitreißend ihre Kreationen.
Die Musik trifft beim Publikum auf offene Ohren. Die Zuhörer sind neugierig und applaudieren stehend.