Wiesbaden hat ein neues kulturelles Highlight: das erste Magnet Festival ist erfolgreich über drei Bühnen gegangen

Das hat geklappt: es gibt ein außergewöhnliches neues Festival in Wiesbaden. Ausdrücklich kein Jazzfestival, stattdessen eines für „innovative“ Musik. Natürlich standen Jazz und Improvisation damit sehr wohl im Zentrum des musikalischen Geschehens. Das erste Konzert in der Kreativfabrik (Krea) war bestes Beispiel. In einer der im Rahmen des Festivals erstmals aufeinander treffenden Musikerkombinationen – das Label lautete „Labor“ – trafen die beiden Vibraphonvirtuosen Evi Filippou und Jim Hart aufeinander. Auf eine wunderbar spielversessene Art, die vor Kreativität und Spielfreude strotzte und den Auftritt der Beiden für viele der Besucher zu den stärksten Momenten des Festivals gleich zu Beginn machte.

Räumlich spielte sich das alles um drei Zentren ab: den Keller der Kreativfabrik (Krea) , die Undergroundbühne im wahrsten Sinne. Unbestuhlt, eher dunkel mit Jazzkelleratmosphäre, Stehkonzerte vor der kleinen Bühne. Maximaler Kontrast zur großen Skatehalle, die sich oberhalb im gleichen Gebäude befindet. Mit Holzrampen, Halfpipes und sonstigem Pipapo der die Skater erfreut. Nicht gerade eine klassische Konzert Location und trotzdem genau aus diesem Grund ein Highlight und Glücksfall fürs Festival. Die Akustik dieser Halle ist speziell, wir kommen darauf zurück.

Den dritten Spielraum gab es einige Meter weiter, über die Straße: das Kesselhaus, die noch konventionellste Spielstätte des Festivals. Bestuhlte Konzerte dort, aber für die Clubnacht waren die auch Stühle ruckzuck weggeräumt – Platz für Tänzer gab’s genug.

Zurück zur Skatehalle, ein Raum für die außergewöhnlichen Konzerte, denn die Raumakustik, mit ordentlich Hall, war geradezu prädestiniert für zwei Solopianokonzerte am großen Bösendorfer Flügel, schwarzglänzend im Zentrum der Halle platziert. Das Publikum war locker in Grüppchen im Raum verteilt, auf Stühlen, auf Holztreppchen und Rampen, wer Glück hatte konnte ein Plätzchen auf einem der raren Sessel ergattern.

Die Akustik der Skatehalle schien den beiden Pianistinnen jedenfalls zu gefallen. Die aus Estland stammende Kirke Karja genoss schon den Soundcheck und improvisierte in der leeren Halle für ein imaginäres Publikum ein erstes langes Set. Bei ihrem Konzert vor Publikum spielte sie dann ein von Paul Hindemith inspiriertes Programm. Dessen Werk „Homo Ludens“ ist zwar Ausgangsmaterial für die junge Pianistin, aus dem Material nutzte sie dessen Motive. Im Wesentlichen war Hindemiths Musik aber vor allem Impuls und Inspiration für davon ausgehende extensive Improvisationen und Exkursionen ihrer eigenen Art. Das war erfrischend und virtuos in einem musikalischen Raum von Improvisation und neuer Musik.

Die zweite Pianistin spielte am dritten Tag des Festivals, und sie kam überraschend: die Belgierin Marlies Debacker, in Köln lebend, war kurzfristig für den verhinderten Elias Stemeseder eingesprungen. Dass für den kurzfristigen Ausfall des Österreichers direkt ein gleichwertiger Act gefunden werden konnte, spricht für die Vernetzung und Organisationskompetenz der Veranstalter. Tatsächlich war Marlies Debacker ein Glücksfall und Gewinn fürs das Magnet Festival. Die Musikerin startete ihr Set mit einer extensiven Exkursion durchs Innere des Flügels. Inside Playing, die Erforschung der Klangmöglichkeiten des Instruments über traditionelles Tastenspiel hinaus, perkussive Elemente… – Debacker setzt sich keine Grenzen und nimmt das Publikum auf die grenzüberschreitenden Reisen mit. Und das ließ sich nur zu gern mitnehmen.

Das dritte Konzert in der Skatehalle fand ebenfalls rein akustisch statt. Die Entscheidung dazu fiel dem Trompeter Peter Evans wohl leicht, denn nachhallende Raumklang war auch für sein Konzert bestens geeignet. Die Trompete ist schon an sich ein nicht unanstrengendes Instrument, aber die Intensität, mit der der Amerikaner mit Zirkularatmung, gewaltigen Intervallsprüngen und pausenloser Stakkato-Vehemenz das Instrument bespielte, das war äußerst beeindruckend und wurde vom Publikum auch frenetisch gefeiert. Technisch brillant ist das und mit dem konstruierten Ansatz verströmt es eine gewisse virtuose Kühle – gekontert von Flüsterpassagen ums Mundstück herum, als geräuschhafte Atempausen.

Ein guter Teil des Festivals wurde zum „Elektromagneten“. Vom musikalischen Soloauftritt von Dan Nicholls – visuell ergänzt von Louise Boer, aka Lou Zon – bis zu Acts wie Dorian Concept, der den Auftakt zur DJ Clubnacht bestritt.

Im Zentrum einiger dieser Auftritte stand der erwähnte Brite Dan Nicholls. Er machte die Variabilität elektronischer Musik schmackhaft: vom impressionistischen und freien Zusammenspiel solo – zu dem die floralen und organischen Visuals von Louise Boer alias Lou Zon wunderbar passten – über die im Vergleich fast schon traditionelle Rolle am Keyboard im mitreißenden Groove von Y-Otis bis hin zum, von Julian Sartorius noch einmal auf ein rhythmisch anderes Level getrommelte Duo im Krea-Keller. Auch hier zusätzlich mit Louise Boers Visuals auf der Leinwand. Im Gespräch mit Nadin Deventer erklärte er in der Listening Session seinen Ansatz: eine Art von zeitgemäßem „die Welt ist Klang“; alles was um ihn herum ist – von der Kinderstimme seines Sohnes bis zu auf Reisen aufgenommenen Sounds vom Seeufer – werden von ihm gesammelt, collagiert und am PC und Synthesizer neu zusammengestellt. Ein offener Ansatz, manchmal frei mäandernd, oft mit vielschichtigen Rhythmen unterlegt. Eine Einladung zum intensiven Hören auf vielen Ebenen. Und ein Aufruf an das Publikum selbst damit zu beginnen Sounds zu sammeln – nicht anders als er gelegentlich selbst: mit dem Smartphone.

Vielschichtig auch das weitere Programm. „The Great Harry Hilmann“ aus der Schweiz war zuständig für die rockigere Seite des Jazz mit einer Prise Punk und Humor dazu. Ein Kommentator auf facebook merkte dazu halbironisch an: „Eine Trash-Band in einem Trash-Keller“. Man darf das durchaus als Kompliment interpretieren. Im Keller der Krea gab es auch weitere außergewöhnliche Sounds zu erlauschen. Die Londonerin Ruth Goller beispielsweise mit ihrem Trio Skylla, dass außer ihr selbst am E-Bass und vokal, aus zwei weiteren Sängerinnen bestand, die eine Stimmung von Betörung und Ritual heraufbeschwörten: ein Hineinhören in die zauberhafte und magische Welt unklassifizierbarer Musik.

Mutig programmiert waren einige andere Programmpunkte: Die „Still House Plants“ um die Sängerin Jessica Hickie-Kallenbach warf zwar gleich ein stimmgewaltiges „Pleasures“ in den dunklen Keller. Das Vergnügen mit der Underground Pop-Band war eher so mittel – die wohl bewusst eingeschränkte gitarristische Variabilität im Trio wurde nicht wirklich durch gelegentliche Verschleppungen des Rhythmus ausgeglichen. Der annoncierte Auftritt von Astrid Sonne solo wurde zu einem Duo mit einer Kollegin, mit der sie gemeinsam etwas fiedelte, wenn sie nicht gerade hinter ihr DJ-Equipment verschwand, um neue Hintergrundsounds dazu abzuspielen. Eines der wenigen musikalischen Angebote, das von einem guten Teil des Festivalpublikums nicht allzu begeistert aufgenommen wurde.

Der letzte Tag des Festivals am Sonntag war wieder exzellent besetzt. Die bereits erwähnte Listening Session am Nachmittag mit Nicholls war ein gelungener Auftakt und noch einmal eine gute Vorbereitung für das Sartorius/Nicholls/Boer Konzert später. Im gut gefüllten Kesselhaus eröffnete das Luis Vicente Quartet das frühe Abendprogramm. Der portugiesische Trompeter hat in dieser internationalen Band außergewöhnliche Musiker zusammengebracht. Angefangen beim Bassisten Luke Stewart, der zur Creme der lebendigen Washingtoner und internationalen Jazzszene zählt, über den explosiven Saxophonisten John Dikeman bis zu Onno Govaert am Schlagzeug. Hier spätestens konnte man im Publikum die bekannten Gesichter auch von weither sehen: Menschen, die zum Freejazz Festival Saar bis zum Jazzkeller Hofheim (solange es dort die legendären Konzerte gab) pilgern um von der Leine gelassenen Jazz zu hören. Die Komponisten des Leaders sind die lose Vorgabe. Das außergewöhnliche intuitive Verständnis auf der Bühne – die Band war schon einige Zeit unterwegs – und die Energie auf der Bühne übertrug sich direkt ins Publikum: eine intensive und mitreißende Erfahrung für die Zuhörer im Kesselhaus.

Mette Rasmussen Trio North - Magnet Festival 2023 - Photo: Frank Schindelbeck

Eine Minute an der frischen Luft, Abtauchen in den Krea-Keller und auf der kleinen Bühne wartete schon Farida Amadou, ganz allein mit ihrem E-Bass. 30 Minuten reine Improvisation im Sitzen, den Bass auf den Oberschenkeln abgelegt, die Bass-Saiten werden mit Fingern und Metallwerkzeug bearbeitet. Perkussiv ist das und experimentell im Sound – das Bedauern über die Kürze des Auftritts wird immerhin vom folgenden und schon gelobten Auftritt von Nicholls, Sartorius und Lou Zon gemildert.

Zurück ins Kesselhaus zum Abschlusskonzert mit dem Trio North von Mette Rasmussen. Mit dem Bassisten Ingebrigt Håker Flaten und Olaf Moses Olsen am Schlagzeug war dieses Konzert nicht weniger mit Energie geladen als das von Vicente. Die dänische Altsaxophonistin gehört seit Jahren zur absoluten Elite der freien improvisierten Musikszene und ist weltweit gefragt und unterwegs. Unter Jazzkennern fallen Namen wie Ayler, Brötzmann oder Braxton zur Einordnung und natürlich wird ihr das nur am Rande gerecht. Wie alle großen Jazzmusikerinnen oder Jazzmusiker hat sie längst ihre eigene Stimme gefunden und Vergleiche mit Anderen können eben nicht mehr sein, als Hilfskonstruktionen für eine beschreibende Annäherung an ihre Musik. Ins Trio floss intensive Kompositionsarbeit, die sich während der Coronazeit zwangsläufig ergab. Aber auch hier waren die kompositorischen Leitlinien nur die Saat der Improvisation. Einhelliges Fazit im Saal nach dem Konzert: mehr als würdiger Abschluss dieses neuen Festivals.

Den Festivalchefs Raimund Knösche und Leo Wölfel kann man gratulieren. Auf einen Schlag ist es ihnen gelungen – nicht ohne Vorerfahrung – ein neues Festivalkonzept auf die Beine zu stellen. Das betrifft schon einmal die Kombination von passenden Spielstätten auf dem Wiesbadener Schlachthofgelände, nahe des Bahnhofs. Musikalisch konsequent international besetzt, in diesem Jahr mit vielen Musikerinnen und Musikern aus Großbritannien, stilistisch eingegrenzt lediglich durchs Attribut „innovativ“. Mit einer großen Umarmung lassen sich damit Musikerinnen und Musiker von zeitgenössischer improvisierter Musik – ja, ich nenne das immer noch Jazz – bis hin zu dancefloorgeprüften Elektronikwizzards unter einen Hut bringen. Auch mit Experimenten ohne Gelinggarantie. Der Mut wurde belohnt, der Magnetismus war stark genug und – ja klar – es gibt Dauermagnete…

| Magnet Festival

Fotos: Schindelbeck Jazzfotografie

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