Koledy – Polnische Weihnachtslieder

Danzig, am 28. Dezember 1998, Theater „Wybrzeze“: Lech Walesa sitzt in der ersten Reihe und hört sich über eine Stunde lang vertrautes und neu geschaffenes Weihnachtsliedgut an. Nicht unbedingt demütig und feierlich ertönen diese Stücke: da geht es mal recht rockig zur Sache, archaische Folklore wird zitiert, und die „Polska Filharmonia Kameralna“ liefert auf der als winterweihnachtlicher Salon dekorierten Bühne zuweilen eine süßliche Streichersoße hinzu. Populistischer Kitsch oder gar Blasphemie? Im streng katholischen Polen feiert man Christi Geburt musikalisch in stilistischer Vielfalt und mannigfaltig mit munteren Rhythmen. „Radio Gdansk“, das zuvor den historischen Arbeiterführer, Nobelpreisträger und Ex-Präsidenten als „Mann des Jahres“ ausgezeichnet hatte, ist „live“ auf Sendung. Gekonnt setzt der baritonale Zbigniew Wodecki mit zwei singenden Mimen weiblichen Geschlechts die von Wlodzimierz Korcz arrangierten Songs in Szene. Dieses Star-Trio macht den Stern zu Bethlehem zur vergnüglichen Unterhaltungsware. Nach Festakt und Konzert trifft man sich dann ganz profan bei Schampus und kaltem Büfett im Foyer. Bei McDonald’s, in Hotel-Bars, in Kirchen und Kathedralen, bei den elektronischen Massenmedien – die polnischen Weihnachtslieder sind nicht streng sakrosankt, sie genießen auch einen säkularen Status. Klerikales und Kommerz kooperieren bestens.

Das bereits 1816 im österreichischen Oberndorf uraufgeführte „Stille Nacht“ darf sich als „Cicha noc“ rühmen, eigentlich die einzige Adaption eines ausländischen Weihnachtschorals zu sein. Ansonsten führen in Wort und Ton nationale Weisen die Hit-Liste an. Dass Weihnachtslieder außerhalb von Kirche und Familienkreis ihren Gebrauchswert finden, hat Tradition in Polen. Einen unverwechselbaren Charakter birgt das dem Jesuskind gewidmete Wiegenlied „Lulajze Jezuniu“ mit seinem langsam kreisenden Dreiertakt und der Melodie im phrygischen Kirchentongeschlecht, das ja auch den spanischen Flamenco bestimmt. Frédéric alias Fryderyk Chopin erinnerte sich 1831, als seine Heimat von den Russen besetzt war, im Wiener Exil an das Liedchen und zitiert es rührselig im Mittelteil seines ansonsten vehementen Scherzos Nr. 1 (h-moll, op. 20). Längst gibt es diverse deutschsprachige Fassungen von „Lulajze Jezuniu“, und wenn sich polnischer Jazzer und Rocker auf CDs über Weihnachtssongs hermachen, darf es nicht fehlen.

Wie der Redakteur Werner Wunderlich, in den fünfziger Jahren „Polen-Referent“ der Deutschen Jazz-Föderation, zu berichten weiß, kamen bereits zu Schellack-Zeiten verswingte „Koledy“ auf den Markt. „Koledy“ (orthografisch präzise sozusagen mit einem „Komma“ unter dem „e“ geschrieben!) ist der polnische Begriff für Weihnachtslieder. In der nasal-korrekten Aussprache erinnert das Wort lautlich an „Kalender“, also die Zeit „zwischen den Jahren“. Auch das Evangelische Gesangbuch für Württemberg wartet mit einem populären „Koleda“ auf: als Nr. 53 wurde „Gdy sie Chrystus rodzi“ zu „Als die Welt verloren“. Übernational verbleibt jeweils die lateinische Schlusszeile „Gloria, gloria, gloria in excelsis Deo“.

Dieses Lied erklingt in der Originalversion bei einem überfüllten Weihnachtsgottesdienst – nicht nur – in Sopot. Musikalisches Renommé besitzt das noble Seebad längst: auf der legendären Waldbühne traten solche Koryphäen wie Albert Mangelsdorff und Whitney Houston auf. Im modernen, breiten Kirchenschiff drei immergrüne Tannen mit bunten Lämpchen, eine Krippe neben dem Altar. Die gesangsmikrofonverstärkte Kantorin an der Orgel intoniert den Hymnus inbrünstig, die Gemeinde folgt auswendig. Zu Hause, wo es nach alter Sitte an Heiligabend ein zwölfgängiges Fischmenü aufzutischen gilt, erschallt im Fernseher auf „TVP 1“ alsdann der gleiche Ohrwurm. Eine Stunde vor Mitternacht sieht man da Vorschulkinder, die Zirkus machen: ausgewachsene Clowns sind weiß bemalt und rot benast. „Gdy sie Chrystus rodzi“ („Jetzt ist Christus geboren“) nun rasant verpopt, nachdem das berühmte Wiegenlied von einer Sängerin mehr schlecht als recht interpretiert worden war. „Joy To The World“ von dem zu Barockzeiten in London tätigen Gastarbeiter Georg Friedrich Händel erfährt eine wilde Techno-Variante, Kerls in hellen Overall-Klamotten zappeln hierzu.

„TVP 2“ zeigt später die Aufzeichnung aus einer Kirche in Wroclaw/Breslau. Hier wird das „Gloria“ auf den Gott im Himmel mit discoflackerndem Scheinwerferfeuer, einer flugs dahinschießenden Kran-Kamera und Trockeneisnebel bebildert. Perkussionisten trommeln furios, Brasilianisches dominiert, und sogar der vor vielen Jahren nach New York emigrierte Jazzer Michal Urbaniak geigt flott irgendwie Weihnachtliches.

Besinnliches kurz darauf in einem Spot: Zu „Stille Nacht“ sieht man Filmsequenzen von verarmten und leidenden Menschen. Diese Schnulze wird in einem anderen Beitrag böse persifliert: Besoffene grölen „Cicha noc“. Beim Zappen durch die Kanäle entdeckt man keine treu-schlichten Chorlieder. Alle „Koledy“ sind bildtechnisch aufgemotzt und reißerisch umgesetzt. Auch an den Feiertagen werden die Zuschauer sowohl bei den privaten als auch staatlichen Programmen mit Werbespots eingedeckt.

In der Zeit nach dem Christfest herrscht wenig Betrieb in der Bar vom Ostsee-Hotel „Gdynia“, welches als Hochburg der Auto-Mafia berüchtigt ist. Immerhin kommt man in Gdingen der Allerweltskundschaft musikalisch entgegen, wenn die obligatorische Musikberieselung auf amerikanische Christmas-Songs getrimmt ist. Da hört man von der Sampler-CD beispielsweise Bing Crosbys „Santa Claus Is Coming To Town“ oder die Gospel-Fassung von „Hark, The Herald Angels Sing“.

Musikalisch Getragenes und Gediegenes hingegen begleitet den polnischen Papst bei der TV-Übertragung vom Weihnachtssegen im heiligen Rom. „Radio Maryja“ verbreitet währenddessen Litaneien frommer Telefonanrufer – instrumental angebetet wird allerdings in einer Zwischenmusik nicht der Weihnachtsbaum, sondern ein schwäbo-badischer Zitronenbaum: „Lemon Tree“ von „Fool’s Garden“. Als Kardinal Glempp in den Fernsehnachrichten zu sehen ist, wird er von schrill-bunten Glühlämpchenketten umrahmt. Zusammen mit Gläubigen singt der geistliche Oberhirte den Cantus „Przybiezeli do Betlejem“, in dem die Jesus-Verehrer diatonisch aufsteigend in schnellen Achteln dem Ziel zueilen und an Ort und Stelle in Viertel- und Halbe-Noten verharren. Ohne nervös blinkende Licht-Schau kommt auch die figurative Weihnachtsgeschichte am Portal der Danziger Katharinenkirche, in der bekanntlich Walesas Beichtvater Jankowski predigt, nicht aus.

Am viereckigen Turm der mächtigen Marienkirche leuchtet elektronifiziert der Stern zu Bethlehem, selbst Stalins Kulturpalast in Warschau ist auf die gleiche Weise illuminiert. Wie im Westen, so auch im Osten: christliche Symbolik möge die Gemüter zum Kaufrausch animieren. Und zur Gefühlsduselei darf auch allenthalben die Musik ihre Frequenzen beisteuern.

Die „Pommes“ bleiben einem im McDonalds-Retaurant an der Warschauer Ausfallstraße nach Bylostok fast im Halse stecken, als plötzlich variantenreich kostümierte Sternsinger das Lokal betreten und ein paar „Koledy“ anstimmen. Statt dem filmgetricksten „Krol Lew“, dem „König der Löwen“, der – mit und ohne Junior-Tüte – als Spielfigur feilgeboten wird, huldigt die Schar dem „König der Könige“. Im Repertoire zwei Hirtenlieder, nämlich das schon erwähnte „Przybiezeli do Betlejem“ und „Wsrod nocnej ciszy“ („Inmitten der Nacht“) mit seinen einfachen Sequenzen im Zweivierteltakt. Die fröhliche Truppe begleitet den nicht unbedingt tonreinen Gesang auf einer Gitarre und einer Handtrommel. Neben den drei Königen sieht man noch Engel, Hirten – aber auch einen Kapuzenmann mit Sense: Schnitter Tod ist mit dabei. O Wunder: Geld schnorren wollen die jungen Damen und Herren in der etwas anderen Fast-Food-Braterei keineswegs, ihre Darbietung geschieht offensichtlich nur so zum Spaß. Bereitwillig posieren sie für ein dokumentarisches Gruppenfoto. Des Nachts werden sie noch von Haus zu Haus gehen und Ständchen anbieten.

Den im Zuckerbäckerstil gehaltenen Kulturpalast mit Sternschweif obenauf und mit herumkreisenden Engeln sieht man auf der Cover-Grafik der CD „Blueselka“ mit der „Grupa Bluesowa Stodola“. Ein Krippenspiel-Musical mit vielen frommen Texten auf afroamerikanische Spiritual-Art. Ziemlich turbulent und derb werden da in polnischer Sprache „Everybody Do The Betlehem Blues“, der „Hotel Komplet Blues“ oder der „Per Pedes Blues“ besungen. Vermarktet wurde die CD im Zeitschriftenhandel, im Kombipack mit einer Zeitschrift – und zusammen mit der Nachpressung des ersten Teils vom „Weißen Album“ der Beatles – samt „Back To The U.S.S.R“. Doppelt zur amerikanischen Christmas-Entertainment-Sache geht es in einer anderen 2-CD-Box. Da schmachtet auf einer Silberscheibe Elvis Presley von einer „Silent Night“, auf dem zweiten Tonträger jubilieren sukzessive Bing Crosby, Jim Reeves, Nat King Cole und Dean Martin.

Auffällig bleibt, dass es die Polen bei den amerikanischen Originalen belassen und sich diese nicht „ummodeln“. „White Christmas“, „Let It Snow“ oder „Rudolph The Red Nosed Reindeer“ beispielsweise gibt es nicht in polnischen Textübertragungen, und auch polnische Jazzer bedienen sich nicht dieser Standard-Ware. Da arrangiert man sich voller Stolz und Sentimentalität mit dem einheimischen Liedgut christlicher Provenienz.

Der vielseitig versierte Vokalist Marek Balata brachte 1995 bei der auch in Polen aktiven österreichischen Firma „Koch International“ eine Compact-Disc mit dem schlichten Titel „Koledy“ heraus. Mit reichlich elektronifizierter Instrumentalbegleitung bes(w)ingt er in den konventionellen Kirchenliedern die Geburt Jesu. Computerisierte Keyboard-Klänge umgarnen auch die jazzig angehauchte Sängerin Marzena Slusarska, deren CD bei „Polonia Records“ ebenfalls „Koledy“ heißt.

Weihnachtslieder ohne Worte kann man jedoch auch bei „Polonia Records“ hören. Das Trio des Pianisten Andrzej Jagodzinski, der in Polen wahrhaft eine Welle von „Play Chopin“ auslöste, verjazzt nun ausgiebig „Koledy – Christmas Carols“.

Der Reigen beginnt mit „Cicha noc“ und endet mit „Lulajze Jezuniu“, dazwischendrin „Gdy sliczna panna“ („Als die hübsche Jungfrau“), ein im Land der Schwarzen Madonna höchst populärer Kirchengesang. Wie bei „Oj, maluski“ („Mein Kleines“) handelt es sich hier um ein zärtliches Wiegenlied, ein „Lullaby“ also, in dem mit Silben wie „li“ und „la“ einschläfernd oder kindlich „gelallt“ wird. Oder ist dies nur ein früher Scat?

Jazzige Improvisationen, initiiert von weihnachtlichen Weisen, schuf auch der Keyboarder Jerzy Szymaniuk auf der Polonia-Records-CD „Wigilia Jazzowa“ („Verjazzte Weihnachten“), welche nicht nur „Oj, maluski“ kreativ ausdehnt. Mit dem Saxophonisten Piotr Baron, der auf Sopran und Tenor betörende Sounds entwickelt, und dem routinierten Gitarristen Jaroslaw Smietana stehen ihm zwei renommierte Jazz-Größen zur Seite. Diesen Tonträger verabreichte der umtriebige Produzent Stanislaw Sobola den Lesern seiner Zeitschrift „JAZZI Magazine“ in der Weihnachtszeit als Gratis-Beigabe. Die Konkurrenz vom Fachblatt „Jazz Forum“, das früher sogar zeitweise noch in einer englischen und deutschen Ausgabe erschien, konterte mit einer eigenen Scheibe: da greift Piotr Lemanski als Solist mit Gleichmut und in stoischer Ruhe ganz „cool“ in die Gitarrensaiten: Easy Listening, Backgound-Music zum Jahresende.

Selbst die – wie ihr einstiger Ehemann Michal Urbaniak – in New York lebende Sängerin Urszula Dudziak eilte in ihre alte Heimat, um an Ort und Stelle „Koledy“ zu verjazzen. Ein Auftritt im riesigen „Sala Kongresowa“, der dem Kulturpalast angegliedert ist, wurde mit einer Plattenproduktion verbunden. Wiederholt im Fernsehen angekündigt werden Konzerte und Tournee eines Urgesteins des polnischen Jazz, nämlich dem Pianisten Wlodzimierz Nahorny.

Am 6. Januar ist’s in Polen mit dem alljährlichen Weihnachtstrubel längst nicht vorbei. Auch nach dem Dreikönigstag stehen in Kaufhausregalen noch Schoko-Nikoläuse herum – und „Koledy“-Konzerte finden immer noch statt. Ein Gefühl wie an Weihnachten herrscht offensichtlich bis in den Frühling hinein. Und etliche Musiker treten zur Sommerszeit vor die Mikrofone, um in der nächsten Saison den nimmersatten Markt mit mehr oder weniger musikalischen Rührseligkeiten um die „Jungfrauengeburt“ bedienen zu können.

Am 20. April 1998 spielte die „Kapela Graboszczanie“ im Radio Rzeszow ihre Weihnachtsplatte ein. „Polish Folk Music Christmas Carols“ heißt es aller Welt erklärend noch auf der Hülle. Musik von südpolnischen Landen: derb, urgestüm und für wohltemperierte Ohren doch etwas falsch. Ein Gesangssextett und fünf Instrumente (zwei Geigen, Klarinette, Akkordeon und Kontrabass) mit Volkstümlichem. „Tryumfy Krola Niebieskiego“ („Triumphe des himmlischen Königs“) ist das wohl bekannteste Lied, das auch gerne von Jazzmusikern verwendet wird. Zum Schluss der CD (Polonia CD 151) musiklos drei Wortbeiträge. Bauern, die ansonsten zum hohen Fest den Kühen tierisch-mitmenschlich geweihte Obladen verabreichen, erzählen im unverfälschten Dialekt weihnachtsgeschichten. Folkloriistisches, musikalisch ziemlich ähnlich klingend, auch vom Norden Polens. „Krebanje“ (Polonia CD 128) präsentiert Weihnachtliches der Kaschuben. Hier läßt man vorwiegend Kinder singen, und genauso ungeschliffen musizieren Klarinette, Violine und Bass. „Stille Nacht“ als Import, „Lulajze Jezuniu“ als Eigenprodukt. Ein Lied erinnert jedoch an jüdische Klezmer-Musik – und auch daran, dass die „Koledy“ vielfach von Tanzrhythmen inspiriert wurden: von Mazurken, vom Krakowiak oder der Polonaise.

Gegen das moderne musikalische Intonationsreinheitsgebot verstößt auch der Weihnachtstonträger der latinisierten „Scholares Minores Pro Musica Antiqua“. Der gemischte Kinderchor „Szczygielski“ und ein Kammerorchester wurden in der Nähe von Lublin privat von dem Ehepaar Danuta und Witold Danielewiczowie aufgezogen. Kostümierung und Musik geben sich programmatisch mittelalterlich. Mit „Jingle Bells“ als Finale wird freilich dann doch dem Zeitgeist gehuldigt. Die CD warf „Polonia Records“ sowohl im Schuber mit einem ausführlichen Begleitbüchlein, als auch als Kombi-Pack mit einem Notenheft auf den Markt.

Mehr Pop und Pep bringt da der Chor „Pro Musica“ von einem anderen Künstlerpaar – Anna und Adam Münzberger führen im südpolnischen Krosno eine eigene Musikschule. Bei „Dzieci spiewaja Koledy“ („Kinder singen Weihnachtslieder“) solieren einzelne Teenager stimmlich relativ präzise – begleitet von gewitzten Arrangements, wobei allerdings auf die Dauer die Computer-Elektronik nervt. Auch dazu gibt’s eine Notenbeilage, außerdem kann man die Compact Disc vereint mit einer humorvollen Grußkarte bekommen. Der mit einem riesigen Sack bepackte Weihnachtsmann saust hier auf einer Gitarre als Schlitten, die Saiten als Zügel fest in der Hand, vom nadeligen Bergwald ins Tal. Außer „Wesolych Swiat“ („Frohes Fest“) wird die Botschaft noch in Englisch geliefert: „Merry Christmas and a happy New Year!“.

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