Im Osten nichts Neues?

Carla Bley

Nürnberg. Als 1966 in Nürnberg erstmals die Biennale „Jazz Ost West“ inszeniert wurde, swingten in deutschen Landen eigentlich nur zwei andere Festivals, nämlich eines in Berlin und eines in Frankfurt. Mittlerweile soll es hier über dreihundert Festivitäten geben, bei denen (an mehreren Tagen) kompakt verschiedene Bands präsentiert werden. Ein Überangebot – zweifellos. Bei der Konkurrenz wird es schwieriger, sich zu behaupten – beim Publikum und bei den Medien. Sowohl in der deutschen als auch in der fränkischen Hauptstadt sind sich die Macher klar: Wenn man schon hoch subventioniert wird, sollen nicht durchreisende US-Stars die Massen anlocken, Profil muss mit der wagemutigen Präsentation von neuen und interessanten Künstlern bewahrt und errungen werden. Dass am selben November-Wochenende nun Berlin und Nürnberg um Fans und Kritiker buhlten, lag weniger an der bundesweit ausgerufenen „Jazzwoche“, sondern nur schlicht daran, dass in Nürnberg im Milleniumsjahr die Meistersingerhalle nur noch im Herbst – und eben nicht im Frühjahr – frei war.

Als einzig identischer Programmpunkt schälte sich die skurrile schweiz-amerikanische Vokalistin Erika Stucky heraus. In Berlin ließ Michael Naura, cooler Pianist und ehemals Jazz-Boss beim NDR, verlauten, als Nachfolgepersönlichkeit des demissionierenden Künstlerischen Leiters Albert Mangelsdorff sei eine ambitionierte Frau, nämlich Carla Bley, in Betracht zu ziehen.

Die blondmähnige Ikone und Kultfigur der New Yorker Avantgarde zählt mittlerweile 62 Lenze und entwickelt nach wie vor intellektuell-ironische Arrangements vorwiegend für größere Ensembles. Vier Bläser (darunter die unverkennbare Trompetenstimme von „Blood, Sweat & Tears“, Lew Soloff) und eine von der Pianistin angeführte vierköpfige Rhythmusgruppe bilden die Formation „4×4“, bei der gewitzt „La Paloma“ durchflattert und „O du lieber Augustin“ seine Wiederauferstehung feiert. Kaputte Schönheit und liebreizende Derbheit fanden bei Carla Bley wieder einmal zu einem homogenen Ganzen, traditioneller Swing verbündete sich mit filigranem Free Jazz.

Quer durch die Jazzgeschichte düste auch das nun von dem Altsaxofonisten Marshall Allen kommandierte „Sun Ra Arkestra“. Auch nach dem irdischen Tod des mystischen Meisters im Jahre 1993 entwickeln die Afroamerikaner ein buntes Stilgemisch in noch bunteren Glitzer-Klamotten: ein von Intonationsreinheit unbedarfter Firlefanz zwischen Swing-Behäbigkeit, rockigem Blues und freitonalen Eruptionen.

Dies ist längst symptomatisch beim aktuellen Jazzmusizieren: die ungezwungene Verfügbarkeit aller Stile und die Integration von Elementen weltweiter Musikkulturen – eben ein Konglomerat allenthalben. In dieser Weise verfährt mit seinen 29 Jahren der kraftvoll versierte Saxofonist Abraham Burton oder der schon 70-jährige Pianist Ahmad Jamal. Freilich: die Gefahr, in eine ausdruckslose Beliebigkeit abzugleiten, ist beträchtlich.

Verkrampft bedient sich da der Trompeter Dave Douglas bei der Zeitgenössischen Tonkunst des 20. Jahrhunderts und produziert für sein gestrenges Sammelsurium viele Notenblätter. Der Tod des spontanen und interaktiven Jazzens.

Andererseits entfachte das mit Klarinette und Perkussion vervollständigte Trio des tunesischen Oud-Spielers Anouar Brahem viel Vitalität und Kommunikationsfreude. Aus einer anderen ethnischen Ecke kam „Jazzpana 2“, nämlich aus Spanien, und hier zelebrierte die Sängerin Equaranza Fernandez zusammen mit dem Pianisten Chano Dominguez die berühmte Monk-Ballade „Round About Midnight“ in faszinierendem Flamenco-Sound.

„Discover the exciting World of Jazz“ hieß das diesjährige Motto der fünf Jazztage zu Nürnberg. Nichts Neues zu entdecken gab es bei den Klavier- und Keyboard-Oldies Randy Weston und Hermeto Pascoal. Den Nürnberger Jazzpreis hat der der Hannoveraner Pianist Jens Thomas, der populäre Filmmusiken von Ennio Morricone originell auffrischte, wirklich verdient.

Freilich vermisste man heuer bei den diversen Konzerten in der Tafelhalle und in der Meistersingerhalle den Jazz von Europas Osten. Kreative Klangbotschaften von Staaten hinter dem Eisernen Vorhang dienten einst als Markenzeichen des von Walter Schätzlein künstlerisch betreuten Festivals. Bedauerlich, dass ein Jahrzehnt nach den politischen Umbrüchen keine Novitäten von Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und den Nachfolgestaaten der UdSSR und Jugoslawiens auf dem Programmplan von „Jazz Ost West“ standen.

Marshall Allen

Abraham Burton

Ahmad Jamal

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