Frei improvisierte Musik knarzt und knallt, quietscht und kreischt, trötet und blubbert an allen Enden. Es sind Klischees, die sich mit dem Begriff des Free Jazz verbinden, die aber bei dem britischen Saxophonisten Evan Parker nur mit der Ergänzung zutreffen, dass diese Sound-Erzeugung streng formalisiert und kontrolliert abläuft und doch – paradoxerweise – äußerst emotional wirkt. Ein Solokonzert mit Parker, zu dem jetzt die Rüsselsheimer Jazzfabrik ins „Rind“ eingeladen hatte, bedarf offener Ohren und Herzen. Der Zuhörer muss bereit sein zur intellektuellen und gefühlsmäßigen Auseinandersetzung mit jenen Stücken, die meist wie ein endloser Fluss kleiner rhythmischer und melodischer Klangeinheiten verströmen, immer wieder leicht variiert und miteinander verwoben werden.
Evan Parker hat wie Steve Lacy und vielleicht auch Peter Brötzmann bei der Erforschung des Saxophonklanges die vorstellbaren Grenzen überschritten. Wie Parker in der Zugabe des Rüsselsheimer Konzertes über einem stetigen Grundakkord Melodiefragmente bläst, übersteigt die Vorstellungskraft und kann nur mit seiner virtuosen Beherrschung von Blas- und Zungentechnik sowie mit der Fähigkeit, geräuschhafte Mehrklänge und Obertöne gleichzeitig zu spielen, unzulänglich umschrieben werden. Parker scheint sogar einzelne Noten durch unterschiedliche Blastechniken in ihre Bestandteile zerlegen zu können.
Es gibt Stücke, die aus einem einzigen Atemzug gegossen sind. Mit einer auf die Spitze getriebenen Zirkularatmung improvisiert der graubärtige untersetzte Brite auf der Bühne des „Rind“ eine Viertelstunde lang über ein Thema in auf- und absteigenden Tomfolgen mit ebenso auf- und abschwellenden Intensitätswellen. Überblasene Stakkato-Läufe in den höchsten Lagen des Sopransaxophons wechseln mit kurzen sonoren Passagen von fast reiner Tonbildung. „Pulse and the circulation of blood“ ist der Titel einer Parker-Komposition und beschreibt die Stimmung, die seine Musik vermittelt eindrucksvoll. Der Saxophonist wechselt zwischen Sopran und Tenor, lässt auf dem größeren Instrument die Akkorde knallen, die Luftsäule im Metallrohr vibrieren, das Holzblatt am Mundstück flattern. Ein expressiver rasender Lauf, bei dem die Finger über die Klappen hetzen, löst sich in einem Hauch auf, bevor mit einem explodierenden Knall eine neue Passage eingeleitet wird. Minimalistisch kreist die Improvisation um ein Lead-Thema, Parker spielt mit feinen dynamischen Abstufungen.
Manchmal ist nur das Atemgeräusch zu vernehmen. Überblasene Knarzlaute sind eingebettet in ein flüssig melodisierendes Falsett. Trotz der enormen Dichte und Komplexität ufert die Improvisation nie aus. Die Energie bleibt stets zielgerichtet intensiv. „Entscheidungen werden klar und sauber gefällt, eine Linie scharf geschnitten“, hat Parker einmal erläutert. Manche High-Note-Folgen klingen bei der letzten Zugabe, als sich Evan Parker von der Bühne herunter dem Publikum nähert, fast physisch schmerzhaft im Ohr. Freie Improvisation auf dieser Ebene, lässt die Diskussion, ob der Free-Jazz tot sei, absurd werden: Sie ist zeitlos.