Wenn die Musik schon alles sagt – Michael Riessler und Jean-Louis Matinier in Hall

Klarinettist Michael Riessler und Akkordeonist Jean-Louis Matinier ermunterten bei einem „Jazztime“-Abend in der Haller Hospitalkirche das Publikum zu einem fantastischen „Kopfkino“. Genreübergreifende Vielfältigkeit war Trumpf.

Kein einziges Wort richtete der Komponist Michael Riessler in der Hospitalkirche an sein schließlich enthusiastisch applaudierendes Auditorium. Die Musik sprach ja für sich selbst. Und diese sollte bei dem 2G-Event von den über hundert FFP2-Maskenträgern, die wie zu Vor-Corona-Zeiten eine normale „enge“ Bestuhlung vorfanden, intensiv goutiert werden – ohne unnötiges und anbiederndes Palaver von der Bühne herunter.

Dagegen informierte der Jazzclub-Vorsitzende Dietmar Winter bei seiner Begrüßung, dass sich dieses Konzert auf „Die andere Heimat“ von Regisseur Edgar Reitz beziehe: „Ein Film über ein Dorf im Hunsrück. Michael Riessler hatte dafür eine Musik voller Sehnsucht komponiert.“

Der 1957 in Ulm geborene Riessler interessiert sich seit jeher für dramatische Stoffe, auch schon 1992 bei den Donaueschinger Musiktagen, für die er sich Liebesbriefe der Nonne Heloise vornahm und die verwegenen Schriftstücke zusammen mit dem Akkordeonisten Jean-Louis Matinier (und acht weiteren Kollegen) zum Klingen brachte. Andererseits experimentierte Edgar Reitz 2007 im avantgardistischen Donaueschingen mit einem Gesamtkunstwerk zwischen filmischer Retorte und „live“-Szenen.

In Hall wurde nun die Zuhörerschaft zu einem kreativen Kopfkino angeregt – zum Soundtrack, der von dem ausschließlich Bassklarinette blasenden Riessler und nicht weniger virtuosen Matinier geboten wurde. Der 58-jährige Franzose zieht und drückt sein komplexes Knopfakkordeon in frappierender Weise. Dem Instrument entlockt er Flageoletts wie bei einer Violine, glissandierende Jaultöne wie von einer Western-Steel-Guitar und mannigfache Kratzgeräusche. Und eine dampfende Eisenbahnfahrt ist auch dabei, das Akkordeon ein maschinenhaftes Metrum markierend, endend mit einem Ritardando und dem finalen Halt in einem Bahnhof. Aber auf einen argentinischen Tango lässt sich der Franzose bei seinen diversen Solo-Exkursionen allerdings nicht ein.

Sämtliche Kniffs der Bassklarinette beherrscht Michael Riessler souverän: Knarzig-Knorrendes und hoch Jubelndes, freejazzige und nicht enden wollende Klangströme dank einer ausgefeilten Zirkularatmung, rhythmisches Schnalzen, Mikrotonales, Multiphonics, Klappengeräusche. Als tonschöpferischer Arrangeur integriert er den „All Blues“ von Miles Davis und eine zweistimmige Bach-Invention samt fugativen und kontrapunktischen Verästelungen – barocke Hochkultur im Jazz-Metier. Allenthalben Klangbilder und unterschiedliche Gefühlswelten. Streng konzipierte Parts, solistische Aktionen und interaktive Improvisationen gehen fließend ineinander über.

Riesslers Folklorebezug bleibt – mit besonderer Unterstützung durch Jean-Louis Matinier – nicht imaginär, sondern konkret dem Balkan, Arabien und Spanien verhaftet. Insgesamt ein Konglomerat von verschiedensten Stilen und Kulturen, stimmig konstruiert. Tradition und Futuristisches vereinen sich feinnervig erst recht bei geringster Lautstärke. Subtiles und Minimalistisches dominieren ohnehin diese musikalische Szenerie, die man sich eben bildlich ausmalen darf. Man kommt bei dem Recital total ohne elektrische Verstärkung aus.

Ganz ursprünglich war die Performance von Michael Riessler und Jean-Louis Matinier für den 29. März 2020 beim 14. Jazz-Art-Festival als Matinee in der Kunsthalle Würth geplant. Erfreulich, dass es nun endlich doch geklappt hat. Ein Erlebnis für die Ohren und das innere Auge.

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