Er ist der Boss und lässt daran keine Zweifel aufkommen. Ken Vandermark dirigiert mit sparsamen Handbewegungen die Soli sowie den Einsatz und die Intensität der Kollektive. Zwar sind seine Partner in der Formation„Vandermark 5“ selbst Künstler von hohem Rang, doch die langen Kompositionen mit freien Sololäufen und notierten Tutti-Teilen sind komplex und verschachtelt. „Second Marker“ ist eines jener typischen Vandermark-Stücke mit melodischen Linien, Fragmenten harmonischer und rhythmischer Swing-Erinnerungen, sich entwickelnder Atonalität und Free-Explosionen sowie der Rückkehr zu expressiven Unisono-Passagen der beiden Tenorsaxophonen – oder gar wie in einer der beiden Zugaben („Ladder“) der Zweistimmigkeit von Alt- und Tenorsaxophon.
Dabei ist es vor allem die Aufgabe des über schier grenzenlose Phantasie verfügenden Cellisten und Soundtüftlers Fred Lonberg-Holm, mit rasenden Bogenstrichen sowie Elektronik von Echo und Hall bis Loops und Schleifen, die freien Passagen vorzubreiten. Sein Saiten-Partner Kent Kessler am Bass übernimmt schon eher den traditionell gebundeneren Teil, wenn er straight zupfend grundiert oder in „Early Color“ ein Solo mit europäisch-klassischem Touch streicht. Tim Daisy an den Drums kann wie kaum ein anderer Schlagzeuger aus punktuell gesetzten Trommel- und Beckenschlägen ein schnelles, polyrhythmisches Solo entwickeln, das abwechselnd swingt und ungebunden pulsiert.
Ken Vandermark strotzt vor Kraft, wenn er zum Tenorsaxophon greift. Sein voluminöser Ton, die raue Aggressivität und schreienden Läufe sind markig und kantig wie sein Kopf mit dem kurzen Bürstenschnitt. Wenn er aber zur Klarinette Greift, dann kann der Amerikaner sanft wie ein Klezmer-Musiker mit leiser Melancholie und schierer Melodiosität blasen. Volksliedhaft schlicht und eingängig erscheinen die vibratoreichen Linien über den ostinat gezupften Akkorden des Bassisten in „Latitude“. Saxophonkollege Dave Rempis bricht diesen Wohlklang schließlich auf, die Drums pulsieren und das Cello steigert sich in Crescendi. Der Bassist zupft ein harmonisch abwechslungsreiches Solo, das von den beiden Saxophonisten mit kurzen Unisono-Einwürfen unterteilt wird.
In den Duetten lassen Vandermark und Rempis die Saxophone schnattern und schreien, Vandermark selbst experimentiert in „Spiel“ mit Schnalz- und Knallgeräuschen sowie überblasenen High-Notes zu den grellen Sounds des elektronisch verfremdeten Cellos. Rempis seinerseits bläst später einen ausgedehnten Lauf in fast reiner Harbop-Phrasierung. Tradition und Avantgarde verschmelzen ohne Bruch.
„Vandermark 5“ präsentiert bei diesem begeistert gefeierten Konzert in der Rüsselsheimer „Jazz-Fabrik“ einen innovativen, zeitgenössischen Jazz, der resolut und sperrig daherkommt, oft aber Swing in den Beinen hat. Diese gewollte Zwiespältigkeit macht die Kompositionen und deren Interpretation so spannend und aufregend, dass Stephan Dudek, der künstlerische Leiter der Jazz-Fabrik, bei der Vorstellung mit seinen Vorschuss-Lorbeeren für die Gruppe fast schon untertrieben hatte.
Das Programm der gegenwärtigen Tournee soll Ende des Monats bei Auftritten in Krakau für eine neue CD aufgezeichnet werden.