SWR2 NOWJazz Session der Donaueschinger Musiktage 2012


Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf

Wieder einmal viel Elektronik beim eigentlichen Jazzkonzert der Donaueschinger Musiktage. Und diesmal passte diese ja zum Gesamtmotto „Mensch und Maschine“ bestens. Der inzwischen nicht mehr amtierende Südwestrundfunk-Jazz-Redakteur Reinhard Kager hatte noch die 2012er Ausgabe der „SWR2 NOWJazz Session“ konzipiert. Inzwischen fungiert in der Nachfolge von Joachim-Ernst Berendt, Werner Wunderlich, Achim Hebgen (Ende September 2012 verstorben) und eben Kager als neuer Jazz-Chef am Baden-Badener Radio der 55jährige Günther Huesmann.

So hörte man heuer nach 2003 wieder „Furt“, ein Duo von Richard Barrett und Paul Obermayer. Wenn das Publikum in der Sporthalle der Gewerbeschulen genauer gesehen hätte, was die beiden hinter den Apple-Notebooks versteckten Akteure auf ihren Keyboards so treiben, würde diese zum besseren Verstehen der Musik-Genese beitragen. Was ist vorproduziert und was ist tatsächlich „live“? Dies bleibt hier die Frage.

Im quirlig blubbernden Sound erinnerten die Engländer an das von dem aus Ungarn geflohenen Komponisten György Ligeti 1958 in Köln realisierte Stück „Artikulation“. Nichts mit sphärischen Klangbändern, sondern augenscheinlich sogar eine körperliche Vitalität. Mehr dynamische Abstufungen hätten der Sache freilich nicht geschadet.

Nach dem digitalen Dialog wurde „Furt“ zum Oktett erweitert – fast ein Orchester mit dem Namen „fORCH“. „Mostly British“ war hier dann die internationale Besetzung. Aus Kanada kam die vehement und kratzbürstig Bassklarinette blasende Lori Friedman. Der Mercedes-Radkappen und anderes Alltagsgerät schlagfertig bearbeitende Paul Lovens sowie die vokale Performance-Künstlerin Ute Wassermann sind Deutsche. Um ein eingespieltes Team handelt es sich bei dem obertönigen Saxophonisten John Butcher (Sopran und Tenor) und Rhodri Davies, welcher seine scheinbar harmlose Harfe weniger engelsgleich als diabolisch traktiert. Ein ganz bekannter Free-Jazz-Promi von der Insel ist natürlich Phil Minton, der geradezu ekstatisch-intensiv seine angerauten Vokalisen herauspresste. Allesamt erfahrene Improvisationsprofis, die offiziell Barrett/Obermayer-Komposition „spukhafte fernwirkung“ interpretierten. Aber bei dem Uraufführungswerk war eigentlich nur festgelegt, wer wann mit wem kommunikativ interagieren darf. Alles verlief ziemlich transparent – von furioser Tutti-Power keine Spur. Konventionelles Instrumentarium und Elektronik gefielen sich im unaufgeregten Miteinander.

Der Abend hatte sehr leise und kontemplativ begonnen mit der aktuellen Besetzung des alten Improvisationsensembles „AMM“. Perkussionist Edwin „Eddie“ Prévost (Jahrgang 1942) und Pianist John Tilbury (Jahrgang 1936) sind die Ruhe selbst. Ein riesenlanges Stück im Schneckentempo ohne emotionelle Aufwallungen. John Tilbury, Absicht oder nicht, huldigte mit seinem präparierten Flügel dem vor exakt 100 Jahren geborenen John Cage. Zu den gamelanartigen Klängen gesellte sich Metallisches von Eddie Prévost. Becken und Gong bearbeitete er ausgiebig mit einem Geigenbogen. Die britische Rentnerband im Duo-Format demonstrierte avantgardistische Altersweisheit – nuancierte Noblesse in kammermusikalischer Art.

Vor genau vier Jahrzehnten, 1972, betitelte Jazzpapst Berendt seine Donaueschinger Veranstaltung in der einstigen Viehversteierungshalle (heute „Mozartsaal“ genannt) „London Music Now“. Doch von den damaligen – und zum Teil nicht mehr lebenden – Protogonisten aus dem Vereinigten Königreich (Evan Parker, Barry Guy, Tony Oxley, Derek Bailey, Paul Rutherford, Howard Riley etc.) mischte jetzt niemand mit.

Jazzverwandtes gab es erneut auch bei den „normalen“ Konzerten der musikalischen Novitätenmesse. Der Norweger Øyvind Torvund erklärte mir beim fürstlichen Empfang im Fürstenberg-Schloss, dass sein Stück „Forrest Construction“ auch Free-Jazz-Elemente beinhaltet habe. Das Stuttgarter „ensemble ascolta“ hatte hierbei vorwiegend punktuelle Aktionen auszuführen, zu denen behutsam im Schwarzwald aufgenommene Naturgeräusche hinzugefügt wurden.

Ansonsten konnte man verschiedentlich das als typisches Jazzinstrument geltende Saxophon erleben. Patrick Stadler kam auf dem Sopran und Tenor bei Clemens Gadenstätters Komposition „Sad Songs“ rhythmisch und klanglich dem Avantgarde-Jazz nahe. Marcus Weiss vom „Trio Accanto“, bei dem Helmut Lachenmanns japanische Ehefrau Yukiko Sugawara am Klavier sitzt, intonierte in Aureliano Cattaneos „Blut“ gedämpft Afro-Amerikanisches. 2010 war der 1949 in New York geborene New-Jazz-Drummer David Moss in Donaueschingen bereits vokal aktiv (bei der monumentalen Orchesterkomposition „Radiographie d’un Roman“ des slowenisch-französischen Posaunisten Vinko Globokar), in diesem Jahr engagierte sich der gewaltige belcanto-Verweigerer beim Eröffnungskonzert in dem auf Syrien bezogenenen Opus „schienen wie Wellen die in lange Auge (Saf Haki/Wörter in die Luft)“ von Helmut Oehring.

Zeitgenössische Musik und Jazz stellen längst kein Gegensatzpaar dar, die Grenzen sind fließend und verwischt. Man darf gespannt sein, welches Jazzprogramm Günther Huesmann für das Donaueschinger Festival des Jahres 2013 zusammenstellen wird. Vielleicht geht es dann mal wieder ohne mehr oder weniger penetrante Steckdosenmusik… 

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