Es ist keine geschulte Stimme. Nicht übermäßig durchdringend wie jene der großen Soul- und Jazz-Singerinnen. Aber sie ist ungeheuer wandlungsfähig und ausdrucksstark. Silje Nergaard haucht lasziv, verrucht verraucht, dann wieder kindlich naiv, hell und piepsend. Sie schmeichelt mit schönen Pop-Melodien, sanften Jazz-Balladen – aber auch mit groovendem Funk und rockigen Rhythmen. Die Sängerin aus dem kühlen Norden Europas wärmte die Herzen der Zuhörer in der Rüsselsheimer Jazz-Fabrik mit einer geschickt ausgewählten Mischung aus Jazz und Pop – wobei die neuen Songs eher dem Letzteren zuneigten.
Die Norwegerin leidet ein wenig unter der Promotion, die sie als „Jazz-Sängerin“ vereinnahmen und vermarkten will. Daran gemessen, muss sie notgedrungen Federn lassen. Als Persönlichkeit Silje Nergaard ist sie dagegen eine eigenständige Stimme im zeitgenössischen Grenzbereich von Jazz und Pop und braucht keine Konkurrenz zu fürchten. Das gilt für ihre sanfte Ballade „At first light“, die sie im Konzert als Opener mit „So sorry“ verband, ebenso wie für die Sting-Nummer „Shame“ mit dem ausgedehnten rhythmisch flexibel getrommelten Schlagzeug-Solo von Jarle Vespestad, und vor allem für „This is not America“, das sie mit dunklem, gebrochenen Timbre interpretiert. Dann wieder singt Nergaard zu perlenden Single-Note-Figuren des Pianisten Tord Gustavsen und streichelnder Beckenarbeit des Drummers mit kindlich-heller Stimme eine neue Komposition „How I supposed“.
Tord Gustavsen, der leitende Kopf der Band, hinterließ im Konzert neben der Sängerin den stärksten Eindruck. Kein Wunder, dass das renommierte ECM-Label ihn mit dem Schlagzeuger Vespestad und dem Bassisten Harald Johnsen als Trio unter Vertrag genommen hat. Der Pianist hat seinen Keith Jarrett gut studiert. Jene Romantik erfüllten Klavierläufe, die ostinaten Bass-Akkord-Blöcke unter den kurzen harmonischen Variationen der Rechten, die perlenden Melodielinien, die suchenden und tastenden Single-Notes. Dennoch: Ein langes Solo Silje Nergaard / Vespestaad – Photographie Klaus Mümpferbelegt, dass der Pianist aus Norwegen zumeist wuchtiger und ein bisschen härter als sein amerikanisches Vorbild klingt. Show-Talent beweist Gustavsen, wenn er im Verlauf des Abends zwei oder drei Mal auf dem Bösendorfer-Flügel und dem Rhodes-Piano gleichzeitig in die Tasten greift.
In Begleitung der Sängerin swingt das Trio in klassischer Manier, ein wenig an niveauvollen Bar-Jazz gemahnend – was den Musiker in den gut sitzenden Anzügen und korrekt gebundenen Krawatten wahrscheinlich nicht unlieb ist. Der Bass marschiert in den Stücken straight voran, in den Soli greift Johnsen wiederum flinkfingrig in die Saiten, spielt das Instrument wie eine Gitarre, aber mit zahlreichen Verzierungen der Melodielinien. Unterdessen bearbeitet Vespestad die Trommeln, Snare und Becken mit Stöcken und Besen eher zurückhaltend als vorwärtstreibend.
Bis auf „Traffic Jam“, eine neue Komposition, mit der Nergaard dem Stau auf den deutschen Straßen Tribut zollt. Motorisch hektisch leitet ein Duo von Bass und Schlagzeug das Stück ein, aufgemotzt mit Akkord-Einwürfen des Rhodes-Pianos. Sie treiben die instrumental eingesetzten und mit Hall unterlegten Vokalisen der Sängerin vor sich her.
Mit einem zarten, balladesken „Japanese Blue“ klingt der offizielle Teil des Konzertes aus. Doch das begeisterte Publikum erzwingt drei Zugaben, die schließlich mit einem norwegischen Schlaflied enden, das Silje Nergaard nach eigenen Worten ihrem Töchterchen am Abend zu singen pflegt.