Diese Musik hätte vor einem halben Jahrhundert entstehen können. Das Quartett um den legendären Bassisten Ron Carter spielt netten Mainstream in wohlverstandener Tradition. Dennoch ist die Musik weit mehr als ein pathosumwölkter Tribut an den Giganten Miles Davis, sondern eher eine liebevolle und dezente Reminiszenz. „So könnte Miles Davis heute klingen“, meinte Ron Carter beim Erscheinen der CD „Dear Miles“, die dem Konzert in der Rüsselsheimer „Jazzfabrik“ den Titel gibt.
Der inzwischen 72-jährige Bassist spielte bei Miles Davis in den Jahren 1963 bis 1968, verließ den Trompeter also vor dessen Schwenk zum elektrischen Jazz, der mit „Bitches Brew“ 1969 eingeleitet wurde. Carter sei zu seinen Anfängen zurückgekehrt, heißt es im Programmheft der Jazzfabrik. Und diese liegen, ungeachtet der späteren Ausflüge des Bassisten in den freien Jazz, eher in einer coolen und melodischen Ausprägung. Die Besinnung auf die Wurzeln mag Ron Carter kaum schwer gefallen sein, denn er ist ein ausgesprochener Melodiker auf dem Kontrabass wie auch auf dem Cello und dem Piccolo-Bass, die er zeitweilig spielt.
Die Besetzung des Quartetts mit einem Schlagzeuger und einem Percussionisten neben Piano und Bass ist ungewöhnlich, aber reizvoll. Spannend hingegen sind neben den Bass-Improvisationen vor allem die Soli des Pianisten Stephen Scott, der in zart hingetupften Single-Note-Linien ebenso ausdrucksstark besticht wie in plötzlich eingeschobenen Blockakkorden und in rasenden Läufen. Wie ansonsten die Bassisten singt Scott die Melodie vor dem Spiel auf den Tasten vor sich hin, geht mit dem Körper mit und versenkt sich in Harmonien, die das unsterblich „My Valentine“ zeitweilig nahezu unkenntlich werden lassen.
In „Stella By Starlight“ lässt Ron Carter das voluminöse und mit einer Hals-Verlängerung versehene Instrument singen. Sein ausgedehntes Solo gedeiht zu einer Lehrstunde des artifiziellen Bass-Spiels mit wohldosiertem Einsatz von Technik und Musikalität. Carter ist ein Meister der Reduktion, ohne die Melodielinien abstrakt werden zu lassen. Fasziniert verfolgt der Zuhörer, wie der Bassist mit der rechten Hand die Basis-Akkorde zupft und mit der Linken in den hohen Lagen die Melodie in Trillern oder kurzen Tontrauben schlägt. Immer wieder setzt er das „note bending“ genannte Ziehen und Dehnen eines Tones effektvoll ein, verliert auch bei riskanten „Drops“, dem Verlängern eines Tones und Kosten des Vorgängers, nicht das präzise Timing.
Carter und Scott gehören zwei Musikergenerationen an, ergänzen sich aber traumhaft vor der Kulisse von Schlagzeug und Percussion. Payton Crossley ist dabei der solide und einfühlsame Rhythmusgeber am Trommel und Becken, der in den leisen Passagen die Felle sanft mit den Besen streichelt und selbst in schnellen Teilen nie laut und aufdringlich wird. Rolanda Morales-Matos übernimmt mit seinen ausgefallenen Einlagen auf unterschiedlichsten Trommeln, Gongs und Becken sowie sogar mit Kuhglocken und einem quäkenden „Muh“ die Rolle des Spaßmachers in dem sonst schon im Outfit sehr elegant wirkenden Quartett.
Vergeblich forderte das Publikum nach fast genau 90 Minuten mit anhaltenden Ovationen eine Zugabe. Er sei völlig übermüdet, hatte Carter vor dem Konzert in der Garderobe erklärt – was allerdings während des Konzertes seine Konzentration nicht im geringsten beeinträchtigte.