Polen und Deutschland – Diplomatie mit Jazz


Fotografien & Text: Hans Kumpf 

Nach den politischen Umwälzungen in Europa ab Ende der 80er Jahre gehört beim Jazz ein stimmiges Wechselspiel zwischen Polen und dem nun vereinigten Deutschland längst zur Normalität. Die brisant-prickelnde Atmosphäre vom polnischen Katakomben- und Underground-Jazz ist längst passé. Nach wie vor kommt man in der gemeinsamen Geschichte der swingenden Art aber trotzdem oft auf anno 1957 zurück. Und Namen wie die der deutschen Brückenbauer Werner Wunderlich (Baden-Baden) und Bert Noglik (Leipzig) sowie die in Deutschland lebenden polnischen Musiker Vitold Rek (Kontrabass), Janusz Stefanski (Schlagzeug), Vladislav Sendecki (Piano) und Leszek Zadlo (Saxofon) tauchen immer wieder auf. Die Vokalistin Urszula Dudziak und der Trompeter Tomasz Stanko, in seinem Heimatland vielmals zum „Jazzmusiker des Jahres“ gewählt, genießen im Westen geradezu Kultstatus. Zwei Fachzeitschriften informieren seit Jahrzehnten in Wort und Schrift ausführlich von der Szene im jeweiligen Nachbarland, nämlich das „Jazz Forum“ (Warschau) und das „Jazz Podium“ (Stuttgart). In Sachen Jazz hätte es des offiziellen deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags vom 17. Juni 1991 nicht bedurft – die swingenden Beziehungen liefen auch zuvor meist sehr harmonisch.

Ganz groß an die polnische Öffentlichkeit – und wortwörtlich auf die Straße – gelangte der Jazz 1956 beim ersten nationalen Festival im Seebad Sopot. Für den internationalen Touch sorgten dabei eine tschechoslowakische und eine englische Formation. Dank des überwältigenden Erfolgs wagten es die studentischen Organisatoren, im Folgejahr die Festivität erheblich auszuweiten. Nun dienten dem wieder einwöchigen „II Festiwal Muzyki Jazzowej“ vom 14. bis 21. Juli 1957 als Veranstaltungsorte sowohl die berühmte Waldoper als auch ein Sportstadion und eine Werfthalle in der Nachbarstadt Danzig

Gleich mehrere Bands aus Deutschland wurden hierzu eingeladen, und dies kam zwölf Jahre nach Ende der furchtbaren Okkupation und des Krieges einer politischen Sensation gleich, nämlich die West-Berliner „Spree City Stompers“ und unabhängig davon diverse Musiker aus Frankfurt, dominiert von den Bläsern Albert und Emil Mangelsdorff sowie Joki Freund. Eingefädelt hatte den hessischen Beitrag, der unter den Namen „Two Beat Stompers“, „Emil Mangelsdorff Swingtett“, „Joki Freund Quintett“ und „Frankfurt All Stars“ firmierte, Jazz-Experte Werner Wunderlich. Wunderlich hatte während seiner Kriegsgefangenschaft in Warschau die Sprache des Landes erlernt und dann rege Verbindungen mit der dortigen Jazzszene gehalten. 


Werner Wunderlich

Keine Frage: 1957 geriet zu einem markanten Neuanfang in der deutsch-polnischen Jazzgeschichte. Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert bleibt dieses Meeting mit der damals begonnenen gegenseitigen Zuneigung stets präsent – so musiziert der nimmermüde Saxofonist Emil Mangelsdorff (geboren 1925) in seinem Quartett aktuell mit zwei seit den 80er Jahren in Deutschland lebenden Polen, nämlich mit dem Bassisten Vitold Rek und dem Schlagzeuger Janusz Stefanski. 

Als im Februar 1997 das Festival in Olsztyn/Allenstein 40 Jahre Jazz-Partnerschaft zwischen den beiden Ländern würdigen und feiern wollte, wurde dieses honorige Ansinnen von den deutschen Kulturbürokraten nicht adäquat unterstützt. Stargast sollte Posaunist Albert Mangelsdorff sein. In der finanziellen und organisatorischen Unsicherheit kamen als Repräsentanten der im Sommer 1957 an der Ostsee aufgetretenen deutschen Formationen dann immerhin Emil Mangelsdorff und der Posaunist Hans Wolf Schneider. Mit dabei wieder im völkerverbindenden Einsatz war auch Werner Wunderlich. Seine polnischen Freunde erinnerten sich noch lebhaft an die „Geheimgespräche“, welche seinerzeit in Sopot die beiderseitigen Jazzaktivitäten weiter in die Wege geleitet hatten. Für seine „Verdienste um die polnische Kultur“ ist Wunderlich später – sogar in der schwierigen Ära der doppelten Kaczynski-Regentschaft! – mit dem „Ehrenorden des polnischen Kulturministers“ ausgezeichnet worden. Mit Genugtuung registrierte Werner Wunderlich, der noch in seinem neunten Lebensjahrzehnt per Radiosendungen über die Jazzaktivitäten in Polen informiert, dass ihn das „Jazz Forum“ auf der Titelseite der Septembernummer 2000 als „ambasador polskiego jazzu“, als „Botschafter des polnischen Jazz“, würdigte.


Werner Wunderlich und Andrzej Wasylewski

Anderseits verteilten auch deutsche Diplomaten bedeutungsvolle Orden. Dem Multiinstrumentalisten und Komponisten Andrzej Kurylewicz (1932-2007), wie seine singende Ehefrau Wanda Warska 1956 und 1957 in Sopot dabei, wurde im April 2001 von Deutschlands Mann in Warschau mit dem „Verdienstkreuz 1. Klasse“ bedacht.

2007, zum 50jährigen Jubiläum der polnisch-deutschen Sopot-Begegnung, geglückte das „Jazz Forum“ seine Leser nicht nur mit einem Reprint des Programmhefts von 1957, sondern wartete noch mit einer CD mit historischen Tondokumenten auf – 14 Tracks von 75 Minuten Gesamtdauer. 

In die deutsche Sopot-Delegation von 1957 integrierte sich neben dem farbigen New-Orleans-Klarinettisten Albert Nicholas als weiterer Amerikaner der professionell gut gelaunte Bill Ramsey, der ja nicht nur billige Schlager zu singen vermag. Von seiner Wahlheimat aus brach er wiederholt nach Polen auf, um dort zu konzertieren. 2001 tat sich Bill Ramsey bei einem Festival mit dem renommierten „Jazz Band Ball Orchestra“ zusammen, und das klingende Resultat gab es alsbald als CD-Beilage vom „Jazz Forum“. Zuvor hatte bei dem 1962 in Krakau gegründeten Ensemble als singender Gast aus Deutschland Sylvia Droste fungiert.

Aber auch in Deutschland erinnerte man sich konzertant und dezidiert an das markante Jazztreffen von Sopot, zwar nicht in einem „runden“ Jubiläumsjahr, sondern am 26. Mai 2005 aus Anlass des binational ausgerufenen „Deutsch-Polnischen Jahres“. In Frankfurt am Main ist längst der Schlagzeuger Janusz Stefanski heimisch geworden, und er initiierte die in der Alten Oper durchgeführte Veranstaltung mit dem englischen Titel „German Polish Jamboree. Three Jazz Generations 1957-2005“. Die ergrauten Brückenbauer der 50er Jahre trafen sich ebenso wie die „mittlere“ Generation und der hoffnungsvolle Nachwuchs. Nun wurden von polnischer Seite u.a. Adam Pieronczyk, das Wasilewski Trio und Anna Serafinska sowie die Sopot-Veteranen Jan Ptaszyn Wroblewski und Roman Dylag gewonnen. Podiumsgespräche und die Präsentation von Filmdokumenten vertieften den Blick zurück. Das deutsche „Jazz Podium“ brachte über dieses „Geman Polish Jamboree“ einen zweiseitigen Vorbericht, und das polnische „Jazz Forum“ protokollierte die Veranstaltung gar auf sechs Seiten.

Schon im Jahre 2000 wurde in der Alten Oper ausgiebig polnisch gejazzt, da damals bei der Internationalen Buchmesse als „Gastland“ Polen diente. Jazzmusik aus Polen erfreut sich in Deutschland längst eines wohlklingenden Namens. Fielen in den 60er Jahren besonders agile Oldtimer-Bands auf, die gerne auch in kleinen Lokalen spielten, so überraschen mittlerweile die Gäste aus dem Osten mit eigenständigem zeitlosem Jazz, oft mit Rockeinflüssen vermengt.


Zadlo, Leszek-Sendecki, Adzik-Debski, Krzesimir-Berendt

Am 19. Juli 1998 widmete das Festival „Jazz Open Stuttgart“ dem vielseitig aktiven Joachim-Ernst Berendt zum (fast verjährten) 75. einen ganzen Abend. Der deutsche „Jazzpapst“ reiste 1957 im Tross von Werner Wunderlich nach Sopot mit (und verbreitete im Nachhinein gerne die schaurige Mär, die Eisenbahnwagen seien – wie einst bei Lenins Trip von der Schweiz zur Oktoberrevolution – verplombt gewesen), lernte dort den Pianisten und später als Roman Polanskis Filmkomponist berühmt gewordenen Krzysztof Komeda kennen – und lud diesen dann wiederholt nach Deutschland zu Rundfunk-, TV- und Plattenproduktionen ein. Ein ausgedehnter Programmpunkt der Berendt-Feierlichkeiten war hier Polen vorbehalten. Pawel Brodowski, Chefredakteur der Zeitschrift „Jazz Forum“, und die Sängerin Urszula Dudziak, die zusammen mit dem trompetenden (Komponisten-Filius) Markus Stockhausen musizierte, bedankten sich in aller (Fernseh-)Öffentlichkeit für die Bemühungen Berendts um die polnische Jazzszene. Mittlerweile sind wichtige Konzertteile mittels DVD nachzuerleben („Best of Jazz Open Stuttgart 1998“), dabei auch das Robert Majewski Quintett.


Urszula Dudziak in ihrer New Yorker Wohnung

Ökonomisch ergiebig und künstlerisch fördernd schien der deutsche Markt für viele polnische Jazzmusiker allemal. So erklärte einst Urszula Dudziak, dass es für sie und ihren (damaligen) Ehemann Michal Urbaniak wichtig gewesen sei, frühzeitig von dem Stuttgarter Intercord-Label „Spiegelei“ produziert worden zu sein. Inzwischen hatte sie längst mit ihrer (oftmals raffiniert elektronifizierten) Stimme Weltruhm erlangt und ihre Wohnsitze in die USA und nach Schweden verlegt. Die Idee zum Projekt „Vocal Summit“, in dem sie auch mit dem späteren Pop-Hitparaden-Star Bobby McFerrin kooperierte, ging gleichfalls von Deutschland aus.

Noch in bester Erinnerung ist für den Trompeter Tomasz Stanko, dass er 1964 vom Norddeutschen Rundfunk zu ausgedehnten Aufnahmen nach Hamburg verpflichtet wurde. Die in München ansässige Plattenfirma ECM stellte den individuell herzhaft-herb intonierenden Blechbläser immer wieder groß heraus, sei es zusammen mit dem Trio des Pianisten Marcin Wasilewski oder seinem „nordischen“ Quintett. Außerdem sorgte das wie ECM in München ansässige Label ACT dafür, dass sich polnische Pianisten wie Pawel Kaczmarczyk, Vladyslav alias Wladyslaw alias Vladislav alias Adzik Sendecki (in der Schweiz wohnhaft und in Hamburg als Keyboarder der NDR Big Band tätig) und Leszek Mozdzer auf dem Weltmarkt (noch) besser positionieren konnten.

Von 1966 bis 2002 gab es in Nürnberg alle zwei Jahre das Festival „Jazz Ost West“, kontinuierlich wurde dieses mit polnischen Musikern bestückt – ständiger Stammgast sozusagen war Tomasz Stanko. Zudem sorgt der unverwechselbare Stanko bei „JazzBaltica“, der swingenden Festivität in Kiel und Salzau, für eine hochwertige Konstante. 

Nicht zu unterschätzen war zu Zeiten des Kalten Krieges das „Jazz Jamboree“ in Warschau. Ähnlich wie Nürnberg diente es früh als Drehscheibe und Informationsbörse. Das polnische Festival ermöglichte vor dem Wendejahr 1989 unzählige deutsch-deutsche Kontakte – bei Musikern, Journalisten und angereisten Zuhörern. Christoph Dieckmann übrigens beschrieb im Oktober 2005 bei der Eisenacher Tagung „Jazz in der DDR – Jazz in Osteuropa“ humorvoll seine aufregenden „Wallfahrtgeschichten“ nach Warschau zum „Jazz Jamboree“. Polen und der Jazz gerieten für die Ostdeutschen damals für ein Sinnbild der Freiheit.

Zum Bindeglied der internationalen Jazzgemeinde und besonders auch zwischen der BRD und der DDR avancierte die in der polnischen Hauptstadt editierte Zeitschrift „Jazz Forum“. 1967 (ein Jahrzehnt nach Sopot!), als auf polnische Initiative die Europäische Jazzföderation entstand, wurde diese in einer englischen Version zum systemübergreifenden Organ einer sich frei und unabhängig fühlenden Jazz-Welt. Fünf Jahre lang – bis zur Einführung des Kriegsrechts 1981 – gelang es zudem, eine deutschsprachige Ausgabe herauszubringen. Experten wie Bert Noglik und Rolf Reichelt reisten zum Übersetzen regelmäßig aus der Deutschen Demokratischen Republik an. Mit der Doppelnummer 5/6-1992, 66 Seiten im DIN-A-4-Format, ausgeliefert erst Anfang 1993, verabschiedete sich das „Jazz Forum“ in der englischen und somit weltweit verstandenen Version. Wirtschaftliche Zwänge machten diesen Schritt notwendig – eben eine Kehrseite der politischen Öffnung. Im Untertitel nennt sich die polnische Monatspostille jedoch bis heute im internationalen Englisch „The European Jazz Magazine“.

Auch das „Jazz Jamboree“ in Warschau verlor in den letzten Jahren an (internationaler) Bedeutung. Dafür wurde 2008 in Deutschland nach polnischem Namensvorbild das „European Jazz Jamboree Berlin“ ins Leben gerufen. Allerdings: Eine äußerst breite Palette länderübergreifender Jazzbegegnungen gab es Ende Mai 2009 bei dem ebenfalls von Uli Blobels „Jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg“ organisierten Deutsch-Polnischen Festival „Sounds – No Walls – Friends & Neighbours in Jazz“. Zum 20jährigen Jubiläum des Mauerfalls wurden bedeutende Bands aus Vergangenheit und Gegenwart eingeladen sowie viel miteinander improvisiert und diskutiert. Die umfangreiche Liste der beteiligten Musiker umfasste das Marcin Wasilewski Trio, das polnische Quintett Kattorna mit dem deutschen Gastkollegen Ernst-Ludwig Petrowsky (Saxofon), das Silke Eberhard Trio mit Adam Pieronczyk, Mateusz Kolakowski (Solo-Piano), das Zbigniew Namyslowski Quintett, das Friedhelm Schönfeld Trio plus Lev Shpigel (Trompete), die Ulrich Gumpert Workshop Band, Vitold Rek als Solobassisten, das amerikanisch-polnische Billy Harper – Piotr Wojtasik Quintet, das Kayla Quintett sowie den Klarinettisten Theo Jörgensmann mit den Oles-Zwillingen Marcin am Bass und Barolomej am Schlagzeug. Bereits mehrere CDs hat dieses länderübergreifende Trio vorgelegt.

An der Planung dieses von der Öffentlichen Hand wesentlich unterstützten Festivals beteiligt war der vielfältig engagierte Leipziger Publizist Bert Noglik, der am 10. September 2008 im Polnischen Institut seiner Heimatstadt das „Silberne Verdienstkreuz der Republik Polen“ erhielt. „Mit dem Verdienstkreuz werden Bürger geehrt, die sich besondere Verdienste um den polnischen Staat und seine Bürger mit Taten erworben haben, die nicht zu ihren sowieso zu erledigenden Pflichten gehören“, hieß es in der offiziellen Presseerklärung. 


Konrad, Dudziak, Joos, Schwarz, Stefanski

Zahlreiche Jazz-Aktivitäten entfalteten bereits 1997/98 die „Baden-Württembergisch/ Polnischen Kulturbegegnungen“. „Kinderkreuzzug“, „Children Song“, „Oberek“ und „Wolszynie“ – so heißen einige Stücke, die in den Ludwigsburger „Bauer Studios“ digital auf Band gebannt wurden. Bernd Konrad, Professor an der Stuttgarter Musikhochschule, bekam vom Land Baden-Württemberg Geldmittel zugewiesen, um ein deutsch-polnisches Jazzensemble zu formieren. Vor einem Auftritt bei Stuttgarts „Südpool-Sommer-Festival“ bewerkstelligte das binationale Quintett digitale Aufnahmen, die dann im Radio gesendet wurden. Zu einer spekulierten Plattenproduktion kam es leider nicht.

Als prominenteste Persönlichkeit der Gruppe fungierte die aus den USA angereiste Urszula Dudziak. Zwei folkloristische Lieder ihres Geburtslandes steuerte Urszula Dudziak zum gemeinsamen Unternehmen bei. Bei „Oberek“ handelt es sich um einen rhythmisch verspielten Tanz im Dreivierteltakt, und die eigentlich simple Dur-Tonleiter abwärts arrangierte sie bei „Wolszynie“ („Wäldchen“) sehr lieblich und harmonisch anheimelnd. Die Bassklarinette von Bernd Konrad und das Flügelhorn von Herbert Joos gelangten mit der instrumental geführten Stimme zu einer homogenen Innigkeit.

Bei dem Werk „Kinderkreuzzug“ erinnerte sich Saxofonist Konrad des gleichnamigen Gedichts von Bertolt Brecht. Dieses erschütternde Poem beginnt mit den Worten: „In Polen, im Jahr Neununddreißig/ War eine blutige Schlacht/ Die hatte viele Städte und Dörfer/ Zu einer Wildnis gemacht./ Die Schwester verlor den Bruder/ Die Frau den Mann im Heer/ Zwischen Feuer und Trümmerstätte/ Fand das Kind die Eltern nicht mehr.“ Den Inhalt und die Atmosphäre der Brecht-Lyrik wollte Bernd Konrad dabei nachzeichnen. 

„Statt mit Chopin im Programm nach Berlin zu reisen, brachte Polens Präsident einen aufregenden jungen Pianisten mit. Mit ebenso wilden wie virtuosen Improvisationen begeisterte der 33-jährige Leszek Mozdzer sein Publikum. Da konnte nicht einmal der Applaus für die Umarmung von Köhler und Kwasniewski mithalten“ – So berichtete euphorisch die ansonsten kritische „taz“ über die feierlich-prominente Eröffnungsveranstaltung des „Deutsch-Polnisches Jahres“ im April 2005. Auch zum fulminanten Abschluss vom „Polnischen Mai“ wenige Wochen später in Stuttgart war der aus Danzig stammende Tastenkünstler zur Stelle. Sein Bassist Olo Walicki und der in München geborene und derzeit in Berlin lebende Schlagzeuger Maurice de Martin schlugen im Theaterhaus-Konzert gleichfalls filigran sehr melodiöse und weiche Töne an. Letztendlich ein homogenes Trio, bei dem – trotz des reichhaltigen Notenmaterials – komponierte Parts und Improvisationen fließend ineinander übergingen. Lyrische Balladen waren bestimmend.

Nahtlos fügen sich die Anfangsbuchstaben der Nachnamen des Pianisten Leszek Mozdzer, des Saxophonisten Christof Griese, des Bassisten Horst Nonnenmacher und des Schlagzeugers Niko Schäuble zu dem Kunstwort „Mogrinos“ zusammen, und eng verzahnt ist auch der zeitlose Mainstream-Jazz der CD (Bit Futurex FCD 7142), die 2004 als Kooperation des Berliner BlT-Musikverlags und des Danziger Labels Futurex von Leszek Mozdzer. herauskam. Der klassisch geschulte Tastenvirtuose hatte zunächst Aufsehen in der Newcomer-Formation Milosc erregt, verjazzte Chopin und tat sich schließlich auch mit dem amerikanischen Trompeter Lester Bowie zusammen. Nun wurde eine polnisch-deutsche Jazz-Einheit praktiziert – eine wirklich interaktionsfreudige Gruppe. Mozdzer hat die zwischen eleganten Balladen und groovenden Blues-Nummern wandelnden elf Eigenkompositionen des nuancierten Schlagzeugers Schäuble und von Christof Griese, der rotzig auf dem Tenor und dezent im Diskant auf dem Saxello agiert, gewissenhaft einstudiert und erfüllt diese mit spontanem Leben. Der flexible Kontrabass von Horst Nonnenmacher rundet das binationale Projekt ab.

 Völkerverständigung auf swingende und kommunikative Art.

Leszek Mozdzer auf die Frage nach seinen Erfahrungen in Deutschland: „Ich habe mit vielen deutschen Musikern zusammengearbeitet. Die Musiker sind wie eine riesige Familie, wir haben eine glänzende Kommunikation miteinander. Ich mag die Art und Weise, wie in Deutschland Musik organisiert wird. Es stehen ziemlich gute Pianos zur Verfügung, es gibt grandiose Konzertsäle.“

Mit mehreren Performances bereicherte das von der Philologin und Übersetzerin Katarzyna Kumpf angeführte Projekt „Polnische Lyrik & Jazz“ die Kulturbegegnungen 1997/98 im Südweststaat. Musikalisch unterstützt wurde die Rezitatorin von ihrem Ehemann Hans Kumpf (Klarinette, Theremin) und dem bereits erwähnten Vitold Rek. Unter seinem eigentlichen Namen Witold Szczurek hatte der Kontrabassist seine Karriere in Polen begonnen, in Deutschland erhoffte sich der in Krakau (unter Penderecki) ausgebildete Saitenvirtuose jedoch mehr künstlerische Anregungen. Längst hat er sich hierzulande als Virtuose, als Dozent und als Festivalleiter in Frankfurt etabliert. 


Vitold Rek

Auf Initiative von Bert Noglik formierte Rek – in Anlehnung dessen erfolgreichen Quartetts „East West Wind“ – eigens für die Leipziger Jazztage am 8. Oktober 1998 eine „Polish German Jazz Connection“. Mit dabei waren wiederum der Saxofonist Adam Pieronczyk sowie Janusz Stefanski (Schlagzeug) und Corinna Danzer (Saxofon). Die Kritik lobte sodann die enorme Spielfreude des länderübergreifenden Unternehmens. 2005 (im Deutsch-Polnischen Jahr!) gar hatte das Festival in der Bach-Stadt das jazzende Polen zum dominierenden Thema.

Unzählig sind inzwischen die deutsch-polnischen Jazz-Aktivitäten geworden. Und dies spricht für sich. Grazyna Wanat beispielsweise entwickelte erstmals 2008 die kompakte Konzertreihe „Polen-Allergie“, welche mit hochwertigem Jazz etwaige Vorurteile gegenüber dem Nachbarland bekämpfen will. Das in der Franken-Metropole sehr aktive Kulturzentrum „Krakauer Haus“ zeichnet für diese Veranstaltung verantwortlich. Tomasz Stanko (aufgewachsen in Nürnbergs Partnerstadt Krakau), Pink Freud, Aga Zaryan, Filip Wisniewski, Leszek Mozdzer und weitere Künstler aus Polen gaben sich bislang ein swingendes Stelldichein.

In Darmstadt hat nicht nur das Deutsche Polen-Institut seinen Sitz, sondern auch das auf das Joachim-Ernst-Berendt-Archiv zurückgehende Jazzinstitut. Es lag natürlich nahe, interdisziplinär zu kooperieren. So wurden dort beispielsweise Mitte 2010 Ausstellungen mit jazzimpressionistischen Malereien von Mira und Alex Fleischer sowie eine Festivaldokumentation von Breslaus „Jazz nad Odra“ gezeigt. Schon 1985 hatte es im kulturell stets aktiven Darmstadt eine konzertmäßige Neuauflage der Berendt-Produktion mit polnischer Lyrik (meisterhaft rezitiert von Gert Westphal) und Jazz gegeben. Als Interpreten der aufgefrischten Komeda-Kompositionen beteiligten sich jetzt u.a. Leszek Zadlo, Krzesimir Debski, Janusz Stefanski und Adzik Sendecki. Der LP-Veröffentlichung folgte 1997 die CD-Version „Der Walzer vom Weltende“, erschienen bei „Litraton“ in Hamburg. 

Bei diversen Partnerschaften, seien sie bezogen auf (Hoch-)Schulen oder Kommunen, werden auch innige Jazzbeziehungen gepflegt. Seit 1998 existiert zwischen Neustrelitz und Szczecinek (Neustettin) eine Städtepartnerschaft. Bei einem Festkonzert zum 700jährigen Bestehen von Szczecinek taten sich auf dem dortigen Marktplatz am 21. Juni 2010 gar 130 Jugendliche aus den beiden Regionen zusammen, um das extra arrangierte Auftragswerk „Rhythmi urbani“ unter dem Dirigat des Komponisten Krzesimir Debski uraufzuführen. In den 80er Jahren tourte Jazzgeiger Debski viel in Deutschland mit seiner Formation „String Connection“, und er erinnert sich sehr gerne an diese aufregenden Zeiten. Mittlerweile ist er besonders als universeller Filmkomponist bekannt.

Nach dem Vorbild der jugendlichen deutsch-französischen Big Band wurde auch ein Deutsch-Polnisches Jugendjazzorchester gegründet. Der Landesmusikrat Niedersachsen ist bei diesem völkerverbindenden Projekt maßgeblich verantwortlich. 

Professor Bernhard Mergner leitet seit 2004 das Großensemble, die in Würzburg lebende Würzburg lebenden Komponistin und Vokalistin Sylwia Bialas arbeitete schon tonschöpferisch für den Klangkörper. In Würzburg an der Musikhochschule tätig war bis zu seiner Pensionierung der 1945 in Krakau geborene Saxofonist Leszek Zadlo. 2003 wurde der Jazzvirtuose zum Professor ernannt, an seinem Wohnort München übt Zadlo das Ehrenamt des Vorsitzenden der „Gesellschaft zur Förderung der deutsch-polnischen Verständigung e.V.“ aus. 1986 galt der Pole mit dem deutschen Pass sogar als der „erste offizielle Jazzlehrer in Bayern“. Außerhalb von Musikhochschulen bewährte sich Zadlo als erfahrener Dozent bei freien Jazzkursen, sowohl in Deutschland als auch in Polen.

Dass immer wieder gemeinsame instrumentale Fortbildungen stattfinden, dient erst recht der Völkerverständigung. Aber der Jazz gilt eo ipso als eine internationale Musik, als eine Sprache weitgehend ohne Kommunikationsschwierigkeiten.


Dudziak, Stockhausen

Es gibt freilich einen polnischen „Exportüberschuss“ in punkto Gastspielreisen zu verzeichnen. Weit mehr polnische Musiker jazzen in Deutschland als dass deutsche Jazzer in Polen auftreten. Immerhin: Im Chopin-Jahr 2010 wurde dem gefeierten National-Komponisten eine ganz besondere Ehre zuteil – der Kölner Trompeter Markus Stockhausen, jazzender Sohn des avantgardistischen Tonschöpfers Karlheinz Stockhausen, interpretierte zusammen mit dem Pianisten Adzik Sendecki am 4. August im Warschauer Lokal „Palladium“ etliche Werke des Romantikers. 13 Tage später konzertierte Sendecki mit deutschen Kollegen nochmals in Warschau. Als regulärer Tastenmann der Big Band des Norddeutschen Rundfunks beteiligte er sich im Sala Kongresowa bei dem Programm „Bobby meets Chopin“ mit dem populären Vokalsolisten Bobby McFerrin. Im Mai 1911 wurde Sendecki mit dem Hamburger Jazzpreis ausgezeichnet, was natürlich auch in seiner alten Heimat vermerkt wurde.

Nicht zum ersten Mal hatte dabei das experimentierfreudige Jazzorchester des NDR mit Polen zu tun. So führte es 2006 mit dem Saxofonisten Jan Ptaszyn Wroblewski als Stargast die Produktion „Jazz from Poland“ durch. Neben Wroblewski-Kompositionen wurden auch Stücke von Tomasz Stanko und Krzysztof Komeda gespielt. Von dem legendären Komeda (1931-1969) kam nochmals „Astigmatic“ zum Zuge. Die Originalversion mit dem Quintett des großen Filmkomponisten wird in Polen als die beste einheimische Plattenproduktion aller Zeiten gewertet. Und hierbei beteiligt war auch ein Deutscher: Günter Lenz, der als Mitglied des Albert Mangelsdorff Quintetts 1965 beim „Jazz Jamboree“ gerade einen Auftritt absolviert hatte, konnte kurzfristig als Aushilfsbassist gewonnen und ins Studio geholt werden. Die Abonnenten vom „Jazz Forum“ bekamen die am 25. Mai 2006 in Hamburg gefertigten Tonaufzeichnungen von „Jazz from Poland“ auf CD verewigt kostenlos mit dem September-Heft des gleichen Jahres geliefert. 

„Polen tut Europa gut“ konstatierte Anfang Dezember 2010 in Warschau Bundespräsident Christian Wulff. Für den Jazz bedeutet Polen längst ein Glücksfall, darf man hinzufügen. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden besonders in und von Warschau aus die swingenden Bande zwischen Ost und West geknüpft und gepflegt. Heutzutage ist unaufgeregte Normalität eingetreten. In Zeiten vom gemeinsamen Europa und des Schengen-Abkommens können auch Jazzer unbeschwert hin- und herreisen – dies eben ohne lästige Visumspflicht und ohne Ärger mit argwöhnischen Zollbehörden, wenn es um den leidigen Instrumententransport geht.

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