Nach wie vor bleibt der Pianist Leonid Chizhik ein Phänomen. In der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken war er auch den Nicht-Jazz-Puristen ein Begriff, im Musikleben des Riesenreiches genoss er eine beträchtliche Popularität – ein Großmeister des konzertanten Jazzklaviers. 1991 verlegte der Virtuose seinen Wohnsitz von Moskau nach München – doch im deutschen Kulturleben gilt er nur für relativ wenige Eingeweihte als ein VIP.
Der von einer jüdischen Familie abstammende Leonid Chizhik wurde 1947 im ukrainischen Kischinjev geboren und lernte bereits ab 1954 an der Zentralen Musikschule von Charkov Klavier, Theorie und Komposition. Im Alter von elf Jahren bereits fühlte er sich vom Jazz angezogen, mit 15 trat er in einer Unterhaltungsband auf. Als er 1965 nach Moskau wechselte und bei Theodor Gutman studierte, erhielt er in dem damals tonangebenden Jazz-Café „Molodjoschnoje“ („Jugend“) Anschluss an die (zuweilen sehr im gesellschaftspolitischen Untergrund) swingende Szene der Hauptstadt. Nach seiner Mitwirkung in den Gruppen des Flügelhornisten German Lukjanov und des Saxofonisten Georgij Garanjan machte er sich selbständig und reüssierte mit eigenem Trio sowie als Solist. Als „Verdienter Künstler Russlands“ wurde er 1983 ausgezeichnet, im Staatsfernsehen hatte er eine regelmäßige Show.
Die Erfolge westlich der UdSSR blieben nicht aus. Fachleute bescheinigten ihm sensationelle Auftritte bei den Festivals in Prag und Warschau, im französischen Le Mans ging er ins jazzende Rennen, Kritiker lobten ihn bei einem Pianisten-Festival in Brasilien mehr als die US-Stars Herbie Hancock und Chick Corea. 1985 gastierte Chizhik erstmals in München, wo er immer wieder für einen höchstinteressanten Klaviersommer sorgte. In dieser Weltstadt mit Herz fühlte sich der Künstler von Anfang an bestens angenommen – kein Wunder, dass sich Leonid Chizhik die bayerische Metropole als neue Wahlheimat auserkor. 1992 begann seine Dozentur am Richard-Strauss-Konservatorium. Professoral engagiert – in Gehaltsgruppe C4 – ist er freilich seit 1994 an der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar. Empfohlen dorthin wurde er von keinem Geringeren als Chick Corea, der Chizhik Anfang Juli 1982 in Moskau kennen- und schätzen lernte. Zusammen mit dem Vibrafonisten Gary Burton war der Komponist des auch im Osten so beliebten Hits „Spain“ dort als musikalischer Botschafter Amerikas tätig. Klar, dass sofort mit den einheimischen Jazzern mehr als nur gute diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden.
Wenn man Leonid Chizhik hört, dann hört man auch Fats Waller, Oscar Peterson, Keith Jarrett, Chick Corea, Cecil Taylor – ein Konglomerat verschiedenster Personalstile im Piano-Jazz. Ist dies Stil-Vielfalt oder Stil-Losigkeit? Den Bedenkenträgern kontert Chizhik mit dem Credo: „Jazz ist für mich eine Art, das Leben zu erfühlen. Musikalische Freiheit demonstriere ich, wenn ich mich eines jeden Stils bedienen kann“.
Einem Publikum der reinen Jazz-Art vermag Chizhik mit dieser Einstellung Schwierigkeiten bereiten. Fasziniert sind da mitunter mehr aufgeschlossene „Klassik“-Kreise – schließlich erkennen diese in den unglaublich präzise interpretierten Fantasien auf dem Flügel neben den bekannten russischen Komponisten auch Bach, Mozart, Beethoven, Brahms und Steve Reich wieder. Leonid Chizhik bekennt zudem, dass Gustav Mahler und Robert Schumann für ihn äußerst wichtig seien. Ganz bewusst macht er zunehmend auf „Crossover“ – als prominenter Partner hierbei agiert immer wieder Gidon Kremer, der ihm übrigens auch den Weg ins Kulturzentrum Gasteig geebnet hatte.
Mögen die Läufe noch so rasant und die Strukturen noch so kontrapunktisch verästelt sein – Chizhik sitzt ganz ruhig am Pianoforte. Kein erbarmungswürdiger Zwiebelschneidetränenblick wie bei Alfred Brendel, kein nervtötendes Aufundnieder über dem Klavierschemel wie bei Keith Jarrett.
Äußerst raffiniert und rational gewitzt verarbeitet Leonid Chizhik das Themenmaterial, welches er vielfach von amerikanischen Standards bezieht. So makellos und furios setzt er seine Ideen auf dem Instrument um, dass man zu der Überzeugung kommen könnte, er spule lediglich Vorgefertigtes ab. Aber spätestens, wenn man mit ihm zusammen improvisiert (dies war mir erstmals 1981 in Moskau vergönnt), erkennt man, dass er wirklich spontan zu musizieren versteht und mit einer selbstverständlichen Sicherheit auf das Spiel seines Partners reagiert. Ungebrochen bleibt dabei seine geradezu traumwandlerische Artistik. Leonid Chizhik ist da schon ein Phänomen. Die wieder veröffentlichten „live“-Aufnahmen unter dem Titel „Days Of Wine And Roses“ vom Münchner Klaviersommer 1987 demonstrieren dies erneut in alter Frische. Ein intelligentes Vergnügen samt emotionaler Sensibilität.
(Klarinettist Hans Kumpf nahm 1981 „live“ am Gnessin-Musikinstitut zusammen mit Chizhik die LP „Jam Session Moscow“ auf)
(Juli 2003)