Was war die Essenz des guten Festivaljahrgangs 2017? Die Programmierung, die mühelos den Spannungsbogen über einige Tage hielt? Die geeigneten Veranstaltungsstätten? Das landschaftliche Umfeld? Die gute Stimmung von Gästen und Musikern?
Letztlich ist das Geheimnis jedes guten Jazzfestivals tatsächlich die interessante Programmierung. Die kann innerhalb eines Genres passieren oder – wie in Saalfelden – mit weit offenen Ohren. Dort bleiben zwar einige Jazzstile außen vor (Traditional Jazz beispielsweise), dafür sind andere Musikgebiete mit nur noch Jazzrandaspekten durchaus Teil der Veranstaltung, und mitunter die interessantesten.
Zur guten Mischung gehört auch die „Nebenreihe“ im Nexus mit exzellenten Bands zu besetzen. Zwei der Festivalhighlights waren dort zu hören – das Quartett von Sylvie Courvoisier (p) mit Ehemann Mark Feldman an der Geige, Evan Parker am Sax und Ikue Mori am Mac und das Amok Amor um den Schlagzeuger Christian Lillinger (mit Wanja Slavin, sx / Petter Eldh am Bass und – special edition – dem Posaunisten Samuel Blaser). Beide Quartette leben von freier Interaktion, vom Ausloten individueller Freiheit in weit gesteckten Grenzen und von einem tiefen musikalischen Grundverständnis, sich in diesem Raum zu begegnen. Diese Bands hätten sich auch gut auf der Hauptbühne im Congress gemacht. Obwohl: viel Tauschpotential gab es auch dort nicht.
Das Eröffnungskonzert – die Auftragskomposition des Saxophonisten Gerald Preinfalk – gehörte dort noch zu den etwas weniger überzeugenden Beiträgen. Wie schon gelegentlich in den vergangenen Jahren schien der Auftritt überambitioniert als schlüssiges Gesamtprojekt. Arg viel hineingepackt im Versuch der Kombination von neuer Klassik und südamerikanischen Rhythmen – individuell durchaus Hörenswertes aber die große Linie fehlte. Die eingespielten Bands hatten es in Saalfelden leichter und verwöhnten und forderten das Publikum mit einem enorm breiten musikalischem Spektrum an den kommenden Festivaltagen bis Sonntagabend. Ein Programm zwischen Wagnis und Zumutung – zumindest für einige Zuhörer – aber in der Gesamtschau nicht anders als außerordentlich gelungen.
Brachial und laut, mit erstaunlichen Nuancen, die norwegische Band Møster! und im Vergleich dazu The Necks, aus Australien, die ihr einstückiges Set kontinuierlich aufschichteten zu einem tranceartigen Flow – im Grunde dann doch die unterschiedlichen Seiten der gleichen Medaille: Musik entwickelt sich in Patterns, repetitiver Flow bei beiden Bands, mal mit viriler Kraft, mal in meditativer Einkehr versunken.
Die Formationen mit österreichischen Wurzeln kamen exzellent beim Publikum an: egal, ob es sich um Wolfgang Puschnig mit Streicherbegleitung handelte („Songs with Strings“) oder um den Avantgarde-Pop mit Jazzeinschlag der charismatischen Sängerin Mira Lu Kovacs bei 5K HD, mit der Veredelung der Band durch den sich im Jazzwerkstatt Wien tummelnden Trompeter Martin Eberle und Manuel Mayr, der schon in der Nexus-Reihe mit seinem Solo Auftritt nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Das Trio „Weisse Wände“ mit Herbert Pirker am Schlagzeug, dem Gitarristen Karl Ritter und dem exaltierten Spoken Word Artist, Sänger und Wahl-Wiener Christian Reiner zelebrierte Improvisation auf allen Ebenen, die sich eng verzahnte und stapelte. Gitarrengewitter treffen auf theatralische Textakrobatik, hin-, her- und angetrieben vom gewaltigen Herbert Pirker an den Drums.
Fantastisch das „White Desert Orchestra“ der französischen Pianistin Eve Risser. Man kann es nicht anders sagen. Wie die Französin als Pianistin die klanglichen Möglichkeiten des Flügels inside und intensiv auslotet, so spürt sie mit ihrem White Desert Orchestra den Möglichkeiten der großen Besetzung nach. Vermutlich ein Fest für Synästhetiker, die in der Besetzung von Fagott über Querflöte bis zum üblichen Jazzinstrumentarium des Tentetts über fehlende Klangfarbe nicht meckern konnten. Erstaunlich die, bei aller Freiheit im Zusammenspiel, doch wie aus einem Guss wirkende Gesamtkomposition von Rissers Werk. Ein Glücksfall übrigens die „Ersatzbesetzung“ mit Luc Ex an der akustischen Bassgitarre, der sich in entfesselte Duelle mit der quirligen Schlagzeugerin Yuko Oshima spielte.
Es ist ein gutes Zeichen, wenn das Hauptprogramm in Nexus und Congress keine Zeit lässt für die öffentlichen – und wie man hört sehr gut besuchten – kostenlosen “Bürgerkonzerte” auf der City Stage. Geschweige denn für eine Wanderung in der herrlichen Berglandschaft rund um das Städtchen am Steinernen Meer.
Da waren zudem die “after hour sessions” zu frühmorgendlicher Stunde vor, die als kostenlose Nexus+ Reihe das diesjährige Programm erstmals ergänzten und sich speziell an ein junges Publikum richteten. Knapp zu spät gekommen bedeutete bei der österreichischen Band Yasmo & die Klangkantine draußen bleiben, so dicht gedrängt war es rund um den beliebtesten Tresen des Festivals. Bei den Expressway Sketches – mit dem letztjährigen Festival-Eröffner Lukas Kranzelbinder am Bass – war es ein wenig luftiger, glücklicherweise. Dafür, dass die Band auch gegen das Konzert von Mats Gustafsson auf der großen Bühne anspielte, war es erstaunlich voll, und Tobi Hoffmann (gt), Max Andrzejewski (dr) und Benjamin Schäfer (keyb) rockten mit ihrem Surfsound eine hin- und mitgerissene Hörerschar.
Stimmen spielten nicht nur bei den erwähnten 5K HD und bei „Weisse Wände“ eine Rolle: Michael Riessler brachte ein Hörspiel auf die Bühne, bei dem der Schauspieler Hartmut Stanke einen Text von Harry Lachner im Zusammenspiel mit der Band mit theatralischer Kraft deklamierte und die „Notizen eines alten Mannes, der zufällig Charles Mingus heißt“ plastische Lebendigkeit gab.
Schon in den Vorjahren bildeten „die Skandinavier“ einen Schwerpunkt des Saalfeldener Festivals. In diesem Jahr zeigte sich vor allem norwegischer Jazz in vielen Facetten. Der in traditioneller Volksmusik geerdete Gesang von Sinikka Langeland war die eher ruhige Ausnahme. Typischer die „Avant-Garde Party Music“ von Cortex und das lautstarke Klanggewitter von Møster! Und in den Formationen von Mats Gustafssons NU Ensemble und Angels 9 verbünden sich die Norweger mit Schweden und anderen europäischen Musikern. Fulminanter und energetischer Jazz, und so waren Martin Küchens „Angels 9“ auch der erwartet dynamische „Festival-Closer“. Allzu lange muss man auf den nächsten Jazz in Saalfelden nicht warten – schon im Januar gibt es die Winterausgabe des Festivals.