Die Intendanten des Jazzfestival Saalfelden, Michaela Mayer und Mario Steidel, können zufrieden sein: rund 15.000 Besucher lauschten den Konzerten im Städtchen am Steinernen Meer und es ist ihnen gelungen ein ausbalanciertes Jazzprogramm auf die Beine zu stellen. Mit schräg angehauchter Avantgarde im Shortcut bis zur, aus dem Wiener Club auf die Alm verpflanzten, groovenden Partymusik. Das alles eingerahmt von einer – und das ist in Saalfelden ein stets erfreuliches Kapitel – gelungenen Festivalgraphik. In diesem Jahr verschiedene Motive, bei denen „eingefrorene farbige Flüssigkeiten“ die Sounds von Musikern visualisierten.
Die musikalisch breite Ansprache des Publikums spiegelt sich in den vier Säulen des Programms wider. Auf der City-Stage im Zentrum der Stadt finden die kostenlosen Konzerte statt, mit „Musik fürs Volk“, gerne mit etwas schmissigerem Jazz, in jedem Fall so wohlverdaulich, dass auch vom Jazz unbeleckte Wochenendshopper beim Vorübergehen nicht spontan in Ohnmacht fallen. Da darf es dann auch einmal eine norwegische Formation sein: Polkabjoern & Kleine Heine Deluxe Edition, die optisch zur Hälfte wie die Blues Brothers daherkommen und ansonsten mit Quetschkommode adaptiertes deutsches und österreichisches Volksliedgut mit norwegisch eingefärbten Ansagen auf Englisch serviert. Dass der Sänger der Formation dann auch noch Obertongesang beherrscht und trefflich ein Didgeridoo zu imitieren weiß, zeigt die Kreativität der Band aber auch das doch recht breite Spektrum des Festivals. Auf der City-Stage dominieren die größeren Besetzungen der gut besuchte große Platz will ja auch voluminös beschallt werden. In auf Trio geschrumpfte Besetzung spielt Polkabjoern auch bei einem der Alm-Konzerte, ein weiteres Spezifikum in Saalfelden. Am Samstag und Sonntag sind auf verschiedenen Almen der Umgebung kleinere Besetzungen zu hören, meist mit Musikern der österreichischen Szene.
Das abendliche Hauptprogramm mit den Top-Acts des Festivals wird vorbereitet und umspielt von den Short Cuts im „Nexus“. Vor relativ kleiner Kulisse finden hier die eher schräg-ungewöhnlichen Projekte ihr Publikum, oft sind es auch kleinere, experimentelle Spin-Offs von Musikern, die in anderen Kombinationen auch auf der Hauptbühne im „großen“ Abendprogramm der Mainstage im Congress zu hören sind. Dass die Short Cuts ein Aushängeschild des Saalfeldener Festivals sind und eine begeisterte Zuhörerschar anziehen, das belegen die „Ausverkauft“ Schilder schon am Donnerstag Abend.
Dass man allerdings einen Teil dieses Publikums auch wieder recht flott loswerden kann, demonstrierten der Trompeter Franz Hautzinger und sein Duo Partner Keiji Haino. Hautzinger wurde mit einem eingegipsten Bein im Rollstuhl auf die Bühne geschoben, ein Sportunfall. Lunge und Lippen waren glücklicherweise nicht beeinträchtigt – er brauchte sie in diesem Duo Konzert mit Haino allerdings nicht so sehr, denn er hauchte oft nur elektronisch verstärkt durch die Trompete ins Mikro oder klapperte schlicht rhythmisch die Ventile. Den kräftezehrenderen Part übernahm Haino. Er traktierte zunächst die Saiten seiner Gitarre mit Schnüren und später dann die Nerven doch eines beträchtlichen Teils der Zuhörer mit seinem Gesang. Mit einer „Art von Gesang“. Haino produziert Geräusche, Vogelrufe, er knurrt, brummt und grollt ins Mikro, spielt mit Rückkopplungen und manchmal schreit er laut. Dass diesem Weg nur ein Teil des Publikums folgen mag ist verständlich, die meisten blieben letztlich doch, weniger, weil hier ein musikalisch schlüssiges Werk geboten wurden als wegen der unbestreitbaren Faszination, die von Hainos Urlauten ausging. Dieses Konzert wirkt wie ein für Außenstehende undurchschaubares Ritual – und Außenstehende sind in diesem Fall vermutlich alle außer Haino, bei Hautzinger bin ich mir nicht sicher.
Eröffnet hatten die Short Cuts das Trio „Crème Proleau“ um den Trompeter Lorenz Raab. Raab, der in Deutschland vor allem mit seiner Formation BLEU bekannt ist, produziert mit seinen Kollegen einen äußerst „industrial“ geprägten Jazz – der ideale Soundtrack für einen Stummfilm über ein Stahlwerk. Es wird viel mit „patterns“ gearbeitet, seien es automatisch wiederholte Sequenzen und Basspassagen, die Philipp Nykrin aus einem seiner vielen Keyboards heraus kitzelt oder in Herbert Pirkers Schlagzeugspiel, das er gelegentlich widerborstig wie Steine in den musikalischen Flow seiner Mitspieler setzt. Im Endeffekt verdichtet sich die Musik des Trios zu einer grandiosen Klangcollage.
Das Trio Rupp – Müller – Fischerlehner aus Berlin mit E-Gitarre, Posaune und Schlagzeug, überzeugte mit einem höchst sensiblen Zusammenspiel. Ihre Stücke scheinen sie sehr intuitiv zu entwickeln und sie geben ihnen dafür Raum und Zeit – und sie nutzen die dynamischen Möglichkeiten dieser Besetzung: von kleinen, flüsterleisen Sequenzen bis zur vollen Dynamik – spannend und eine Empfehlung für ihre gerade erscheinende neue CD „TAM“.
Eine schon etwas ältere CD hatten auch Han Bennink und Uri Caine im Gepäck und ihr Konzert, der letzte Shortcut am Samstag Mittag war eine grandiose Werbeveranstaltung für das Werk. Das beginnt mit einer wunderbar aufgehippten Version von Monks „‚Round Midnight“ und setzte sich neben eigenen Titeln und weiteren Coverversionen fort. Ob Mozarts „Kleine Nachtmusik“ dran glauben musste oder ein Ragtime von Scott Joplin – der hibbelige niederländische Schlagzeuger und der Pianist aus den Staaten verstehen sich blind und strotzen vor Spielfreude und Spaß an Spielereien. Dass Bennink außer seinen großen schlagzeugerischen Fähigkeiten auch gewitzte Schauspielerei beherrscht tut dem musikalischen Format keinen Abbruch und erhöht die Kurzweiligkeit der Performance. „Does humor belong in music?“ Was für eine dumme Frage…
Die Mainstage Konzerte im großen Saal des Congress in der Stadtmitte werden vom österreichischen Pianisten David Helbock und seiner Band „Action Figures“ eröffnet. Eine gute Wahl: der 29-jährige hat mit dem Berliner Christian Lillinger einen Schlagzeuger an der Seite, der das überbordende pianistische Können agil und gewitzt mehr schlagfertig kommentiert als begleitet und mit Marcus Rojas einen jener Tubisten, die aus ihrem früher mal als behäbigem Instrument flinke Töne entlocken. Vielleicht kam es nur mir so vor – aber Tony Malaby war zwar ein solider, jedoch fast schon etwas unnötiger Begleiter. Ob die vier sich freie Stücke vornahmen oder Helbock ein Monk gewidmetes Stück so monkish ins aktuelle Jahrtausend explodieren ließ, dass der Meister vor Freude im Grab tänzeln würde – das ist unverkopfter Jazz mit Anspruch. Dass er es auch alleine kann, zeigte Helbock in einer Solo-Version des Titels „1999“ von Prince, ein Ausschnitt seiner CD „Purple“ auf denen er sich ausschließlich Titeln des amerikanischen Popprinzen annimmt. Vom bekennenden Strickmützenträger darf man noch Einiges erwarten.
Am Abend dann Marc Ducret mit seiner 12-köpfigen „Tower-Bridge“. Er setzt ein Konzeptprogramm um, bei dem er aus seiner Musikerschar immer wieder unterschiedliche Besetzungen formt – mit ihm selbst als musikalischem Bindeglied. Zwischen rhythmischer Vielschichtigkeit und fetten Bläsersounds eine gelungene Melange des Gitarristen – getragen auch von großartigen Solisten wie Tim Berne und Tom Rainey.
Das Scott Colley Quintett dürfte die Freunde gepflegten Mainstream Jazz erfreut haben bevor „Omaha Diner“ (Bernstein, Skerik, Hunter, Previte) den frühen Morgen einläuteten. Auch sie mit einem Konzept: nur Nummer 1 Pop Hits durch die Jazzmühle zu drehen. Kein Bass? Kein Bass! Braucht man auch nicht, den auch diesen Part übernimmt Charlie Hunter an der Gitarre. Und der ist genauso gut gelaunt und in Spiellaune wie die ganze Band, die sich individuell brillant und als Gruppe abenteuerlustig der Popperlchen annimmt.
John Medeski am Samstag Nachmittag solo am Piano – er bereitet keine Schmerzen. Er spielt durchaus netten Pianojazz zur Teatime und beginnt sein Set mit dem Klassiker „Summertime“. Zumindest dem Schreiber dieser Zeilen blieben von seinem Konzert allerdings wenig bleibende Erinnerungen und unwillkürlich schleicht sich der Gedanke ins Hirn – und drängt sich zunehmend auf – dass ein Solokonzert des am Vortag spielenden Pianisten David Helbock vermutlich um einiges spannender und origineller gewesen wäre.
Was sich im Shortcut-Duo schon angedeutet hatte: Franz Hautzingers größere Formation „Big Rain“ auf der Mainstage gehörte zu den Highlights des Festivals. Laut, spannend und manchmal dreckig in einer Traumbesetzung für Freunde des experimentellen Jazz, für Mainstreamhörer möglicherweise vielleicht eher ein Alptraum. Außer Hautzinger an der Trompete uns seinem Shortcut Duopartner Keiji Haino an der Gitarre – auch hier mit gelegentlichen Ausflügen ans Mikrophon – zum Quartett erweitert, mit Jamaaladeen Tacuma am Bass und Hamid Drake am Schlagzeug.
Eine geradezu geniale Besetzung: auf der einen Seite der kaum zu bändigende Haino, der mit wild ins Quartett geworfenen Gitarrenfragmenten und gewohnt unorthodoxer Geräuschbildung am Mikrophon das Quartett aufmischt und als Gegenpol die Rhythmusgruppe mit Drake und Tacuma, von denen letzterer mit einem zwar funkigen aber doch geerdeten Bass fast schon einen ruhenden Pol zum hyperaktiven Haino bildet. Tacuma schreibt auf seiner facebook-Seite: „Yes it was indeed the very first time that I performed with Keiji but it felt like we have played together for so long. Completely my cup of tea.“ Hautzinger schwebt als Trompetenguru mal mit natürlichen, oft mit elektronisch veredelten Tönen, die im Zweifel auch nur aus elektronisch verstärkten rhythmischen Atemstößen bestehen, als guter Geist über den musikalischen Stürmen. Zu Hamid Drake gibt es nur das übliche zu sagen: wie wenige Schlagzeuger verbindet er spielerische Kontrolle mit größtmöglicher Freiheit im Zusammenspiel jeglicher Kombination, vor allem aber in einem Umfeld, das ihm diese größtmögliche Freiheit auch schenkt, wie in diesem aufregendem Quartett.
Eher enttäuschend: das Projekt von Wadada Leo Smith. Sein ambitioniertes Werk mit Streichern, Harfenistin auf der einen Seite und Jazz-Section mit Drums, Bass und Piano auf der anderen trägt den Titel „Ten Freedom Summers“ und bezieht sich auf Schlüsselpersonen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Entstehung dieses Werks begann mit ersten Kompositionen schon im Jahr 1977, das Gesamtwerk ist auf vier CDs erschienen. Die Aufführung in Saalfelden blieb blass und wirkte weniger frei und selbstbewusst als unsicher und unstrukturiert. Smith versucht sich mit sparsamen Gesten seiner Formation mitzuteilen, die scheinen eher selten genau zu verstehen, was der leitende Meister tatsächlich will – symptomatisch das Mienenspiel der Harfenistin zu Beginn des Konzerts: die blanke Ratlosigkeit. In Erinnerung bleibt Stückwerk, anstrengendes zumal, „das kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel“.
Wohltuend unorthodox der letzte Act des ersten Abends auf der Mainstage: Jon Madofs Großformation „Zion80 – Jewish Afro Beat“. Ob das nun eher „Jewish Afro Beat“ war oder vielleicht doch eher „Jewish Party Groove Music“ sei einmal dahingestellt. Dass die Großformation auf Anhieb das Publikum begeisterte war umso erfreulicher, weil die Band deutlich nach Mitternacht ihren Auftritt begann und ausreichend fetzte um den vollen Saal zu begeistern
Am Sonntag konzentriert sich das Saalfeldener Programm auf die Mainstage im Congress und am frühen Nachmittag eröffnet Christian Lillingers „Grund“ den letzten Festivaltag. Das Septett mit gleich zwei Bassisten spielt komplexen zeitgenössischen Jazz. Die Rhythmen sind vielschichtig und vertrackt, was Wunder wenn der Kopf der Gruppe eines der größten Talente an diesem Instrument ist. Lillinger hat in einem ZEIT-Interview gesagt: „Ich wünsche mir, dass unsere Musik als Kunst wahrgenommen wird und sich von der Unterhaltungsmusik absetzt, als die der Jazz immer noch oft gesehen wird.“ Glücklicherweise hat die die Musik von „Grund“ eben doch *auch* einen Unterhaltungswert und Lillinger tut gut daran nicht nur auf „Kunst“ und „Kopf“ zu setzen, sondern die Leidenschaft mit Unterhaltungswert seiner Bands zu bewahren.
Mit Spannung wurde „Angel10“ erwartet, ein Tentett mit doppelter Schlagzeugbesetzung. Unter der Leitung des schwedischen Altsaxophonisten Martin Küchen spinnt die Großformation in teilweise ausschweifend langen Stücken eine eigensinnige Bigbandauffassung: Freejazzausbrüche im Tutti, gerne Mal aber auch vom hypnotischen Vibraphon getragene 20 Minuten Stücke mit auf kleinste Besetzungen herunter gebrochenen Zwischenspielen. Moderner Big Band Jazz mit langem Atem.
Ebenfalls eine fabelhafte Besetzung brachte der Gitarrist Ross Brandon mit nach Saalfelden. Neben dem Drummer Tyshawn Sorey, Stomu Takeishi an der akustischen Bassgitarre, den hochgeschätzten Trompeter Ron Miles. Dass Brandon Scott ebensoviel Pop-Musiker wie Jazzmusiker ist, das ist in seiner Band „Blazing Beauty“ deutlich hörbar. Wenn er seine Musik als „Future Folk“ bezeichnet, dann trifft das den Kern – keine Angst vor Melodien und Songs, auch wenn in diesem Konzert von ihm selbst wenig gesungen wird, manchmal bringt er Ron Miles mit seiner Trompete zum Singen und wenn er zum Banjo greift und einen sanften Blues anstimmt, dann amalgiert er Song, Jazz und Blues zum „Future Folk“.
Im Grunde eine ideale Überleitung zum letzten Konzert des Festivals in dem sich Uri Caine mit Theo Bleckmann und Barbara Walker der Musik von George Gershwin widmeten. Vorher musste sich der Rezensent jedoch Richtung Heimat verabschieden.
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