Jazz, Chopin, Kaczynski und der Tod


Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf 

10. April 2010

Der Samstagmorgen in Warschau gibt sich unwirtlich – tristes Grau bei nasskaltem Wetter am 10. April. Dann zum Frühstück um etwa 9.30 Uhr im Hörfunk eine aufschreckende Eilmeldung: „Das Flugzeug des Präsidenten ist in Smolensk abgestürzt!“. Über das Schicksal der Insassen gebe es noch keine offiziellen Informationen. Im laufenden Fernsehprogramm wird ein Schriftband eingeblendet, welches über das nationale Unglück informiert. Die Nachrichtensender berichten zunächst nur aus dem Studio über die polnische Tragödie in Russland. Im Wald vom nahen Katyn wollte Lech Kaczynski den dort vor 70 Jahren im Auftrag Stalins massakrierten polnischen Offizieren und Intellektuellen gedenken – im Beisein derer Angehörigen. Jetzt wird an Ort und Stelle die geistliche Fürbitte erweitert auf die hochrangige Delegation, die man hier erwartet hatte und die nie ankommen wird.

Im kleinen Supermarkt hört man bereits eine Stunde nach dem Unglück besorgt die Worte „Katyn“ und „Kaczynski“, auf der Straße spricht mich ein erschütterter Mann an: „Tragedia… Samolot (Flugzeug)… Katastrofa… Smolensk… Prezydent“. Die elektronischen Medien verbreiten inzwischen die Todesnachricht: „Prezydent nie zyje“ („Der Präsident lebt nicht mehr“). Das Radio stellt sein Programm auf getragene Musik um – langsame in moll gehaltene Klavierstücke von Chopin, später auch der Trauermarsch aus Gustav Mahlers 1. Sinfonie und das triolische Choralvorspiel zu „Jesus bleibet meine Freude“ von Johann Sebastian Bach. Die Fernsehsender haben sich nun weitgehend gleichgeschaltet – ähnlich, wie es weltweit am 11. September 2001 der Fall war. In Warschau läuten vielerorts Kirchenglocken. Landesweite Lähmung wie nach dem (freilich nicht unerwarteten) Tod des polnisches Papstes Jan Pawel II vor fünf Jahren.

Bis 12 Uhr dürfte es in der polnischen Hauptstadt wohl keinen Menschen mehr geben, der von der nationalen Tragödie nichts erfahren hatte. Auch die in den Metro-Zügen installierten Flachbildschirme verbreiten pausenlos die traurige Nachricht, und sie zählen immer wieder die über 90 weiteren Opfer der Flugzeugkatastrophe auf. Mir scheint es, dass weniger Leute auf der Straße und beim Einkaufen sind als üblich. Vor privaten Geschäften und an Wohnhäusern flattern polnische Flaggen mit Trauerflor, noch bevor an staatlichen Gebäuden die Fahnen auf Halbmast gehisst werden. Die Direktion eines Gymnasiums hat längst schon einen schnell erstellten Computerausdruck an die Pforte hängen lassen mit der Mitteilung, dass der für den Abend geplante Schülerball aufgrund der Tragödie von Smolensk ausfallen müsse.

Immer mehr nationale weiß-rote Fahnen samt schwarzen Bändern tauchen auf: An Wohnungsfenstern, an Bussen, in Metro-Stationen – und an Privatautos, wie früher zu fußballmeisterschaftlichen Zeiten. Gelegentlich scheint am Nachmittag mal kurz die Sonne – so, als wolle der Himmel die Tränen der Trauernden tröstend trocknen. Ein junger Afrikaner, der bei der Agrarhochschule in den Linienbus steigt, schert sich offensichtlich nicht um die allgemein gedrückte Stimmung, denn die Techno-Musik des MP3-Players dröhnt aus seinen Kopfhörern meterweit. 


Krzesimir Debski

Um 18 Uhr will ich eigentlich im kommunalen „Kino Kadr“ ein renommiertes Jazzfilm-Festival besuchen, um dort den Geiger Krzesimir Debski zu hören und zu treffen. Ich kenne ihn seit Beginn der 80er Jahre, als er mit seiner Band „String Connection“ die polnische Jazzszene anführte und wiederholt zum „Jazzer des Jahres“ gewählt wurde. Zwischenzeitlich hat sich Debski als Dirigent und Komponist auf dem Klassik-Sektor getummelt und öfters mit seinem englischen Instrumentalkollegen Nigel Kennedy gespielt. Vor einem Jahr führte ich mit Krzesimir Debski ein Interview, und nun wollte ich ihm die Veröffentlichungen in den Zeitschriften „Jazz Podium“ sowie „Polen und wir“ überreichen. Doch ein handgeschriebener Zettel an der Tür verkündet karg, die Veranstaltung von Konzert, Fachvortrag und Filmvorführung könne wegen der Katastrophe nicht stattfinden. Also: Auch seriöse Kultur (und nicht nur „niederes“ Unterhaltungsvergnügen) wird gestrichen, vermutlich auch das Konzert des legendären amerikanischen Jazzgitarristen Jim Hall am Montagabend in der Nationalphilharmonie. 

Emsiges kommerzielles Treiben noch im neuen Konsumtempel KEN. Im riesigen Supermarkt einer französischen Handelskette hört man immer wieder die Durchsage, dass der Laden am morgigen Sonntag geschlossen sei. Sonntagseinkaufsruhe – diese ist ansonsten, was verwundert, im streng katholischen Polen unbekannt.

Nach Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause im Außenbezirk Ursynow, verkünden via Radio und Fernsehen Premier Donald Tusk und Seym-Marschall (Parlamentspräsident) Bronislaw Komorowski, dass alle Polen, gleich welcher politischen Ausrichtung sie angehören, in Schmerz vereint seien. Eine einwöchige Staatstrauer ist angeordnet. Im TV sieht man in Live-Schaltungen bis nach Mitternacht, wie sich Tausende von Trauernden in der Innenstadt sammeln. Treffpunkte sind hierbei der Präsidentenpalast, das Königsschloss und das Grabmal des Unbekannten Soldaten. Ein Meer von Blumen allenthalben. April heißt auf Polnisch „Kwiecien“ – Blumenmonat. Nun hat dieser Begriff bei den floraphilen Polen eine ganz intensive Bedeutung.  

Im zweiten Fernsehprogramm philosophieren derweil zwei Priester darüber, ob die Polen das „auserwählte Volk“ seien. Dass die Polen ihr zweites traumatisches Katyn-Drama erdulden, dies wird gleichfalls immer wieder betont. Während im Nachrichtenkanal in Schwarzweiß-Filmaufnahmen der Absturzstelle als auch Archivfotos der Opfer gezeigt werden und dabei Chopins Trauermarsch erklingt, strahlt TVP1 den berühmten „Katyn“-Streifen des Regisseurs Andrzej Wajda aus. Im September 2007 erlebte ich in Polen, wie der Kinostart und die Präsenz des großen Meisterregisseurs beim Filmfestival in Gdynia zum nationalen Gesprächsthema gereichten. Katyn hat die Polen erneut heimgesucht.

11. April 2010

Am Sonntagmittag ist es rund um den Präsidentenpalast proppevoll. Zehntausende Menschen, teilweise bewaffnet mit Blumen und Digitalkameras drängen sich. Noch verzweifelter im Gesichtsausdruck sind die Leute, die in einem nahen Cafe in einer langen Warteschlange auf ein freies WC harren. Die Straßen sind für den Fahrzeugverkehr ohnehin abgesperrt. Kostenlose Sonderausgaben von Tageszeitungen werden verteilt. Fliegende Händler nutzen die Gunst der Stunde und verscherbeln Grablichter, polnische Flaggen und Tulpen in den Nationalfarben weiß und rot. Viele Fernsehkameras haben sich zur live-Berichterstattung in Position gebracht. Um 12 Uhr heulen von Ambulanzwagen und Polizeiautos lautstark Sirenen für eine 120 Sekunden währende Schweigeminute. In Kirchen finden aus aktuellem Anlass Gottesdienste statt, die Leute hören auch noch von außen zu. Die Gespräche der Passanten drehen sich nur um die Katastrophe. Man stellt Überlegungen an, wie es dazu kommen konnte.

12. April 2010

In auflagenstärkste seriöse polnische Tageszeitung „Gazeta Wiborcza“ ist zur einen Hälfte gefüllt mit Traueranzeigen und zur anderen mit den aktuellen Katastrophenberichten und den Nachrufen auf die Opfer von Smolensk. Nicht mal für die Wettervorhersage ist Platz, geschweige für eine von meiner Frau aufgegebenen Kleinanzeige. Zunehmend diskutieren die Medien immer mehr die Frage, wie es zu der Tragödie kommen konnte: Hatte der Präsident den Piloten gezwungen, auch bei denkbar schlechten Wetter in Smolensk zu landen oder gab es sprachliche Verständigungsprobleme mit dem russischen Tower?

Heute nochmals zum Präsidentenpalast, ehe der Trubel noch gewaltiger wird, wenn man am Sarg vorbeidefilieren kann. In der Straßenbahn kommt aufs Handy ein Anruf vom Heilbronner Hörfunkstudio des Südwestrundfunks. Man hatte dort meinen Zeitungsbericht gelesen und mich zunächst mittels E-Mail kontaktiert. Die erste Frage, ob das Leben in Polen derzeit wirklich gelähmt sei. Nein, antworte ich und sehe gerade auf den regen Straßenverkehr. Andererseits fänden bis Ende der Woche keine Konzerte statt, wie mir Pawel Brodowski, Chefredakteur der Zeitschrift „Jazz Forum“ kurz zuvor bestätigt hatte. Freilich habe ich am Sonntag noch eine geöffnete Glückspielspelunke und einen verkaufsbereiten Alkoholladen gesehen. Paradox ist, dass selbst das Chopin-Museum seine Pforten geschlossen hat.

Pawel Brodowski

Der Weg von der Straßenbahnhaltestelle führt am Grabmal des Unbekannten Soldaten vorbei zum Pilsudski-Platz, wo am Samstag die große Trauerfeier stattfinden soll. Besonders vor dem Papst-Kreuz ist eine Unmenge von Grablichtern abgestellt.

Seitlich vom Präsidentenpalast, vor dem Bristol-Hotel, sieht man Tausende von Grablichtern und auch Blumen sowie kleine Nationalflaggen. Uniformierte Pfadfinder sammeln die Gefäße auf, wenn deren Flammen erloschen sind, damit wieder neue Beileidsbezeugungen abgelagert werden können. Inzwischen wurden auch Toilettenhäuschen aufgestellt, im Cafe an der Ecke unterhalten sich derweil zwei kleidungsmäßig gut situierte Herren im besten Rentenalter über neueste Weibergeschichten, während draußen junge Pärchen vertränt sich umarmend dastehen oder niedergeschmettert auf dem Boden hocken.

Immer mehr TV-Teams mit ihren Übertragungswagen sind eingetroffen. Ich sehe ein Fahrzeug mit Kölner Kennzeichen, das für RTL und n-tv zuständig ist, ich höre einen englischen Reporter reden und beobachte, wie sich der gewichtige CNN-Mann Jim Clancy für eine Direktschaltung vorbereitet. Polnische Stationen haben Kameras auf hohen Kränen installiert. Ein wahrer Medienzirkus. 

13. April 2010

Die Fernsehsender sind live dabei, als der Sarg der Präsidentengattin Maria am Flughafen eintrifft und zum Palast transportiert wird. Überall am Straßenrand stehen Mitfühlende und Gaffer. Als am Sonntag Lech Kaczynski derart feierlich überführt wurde, konnte man den Menschenauflauf verstehen – aber jetzt am Dienstag, einem Werktag? Müssen die Leute nicht zur Arbeit? Freilich, sämtliche Museumswächter und Musikanten werden diese Woche per Dekret zur Arbeitslosigkeit verdammt. Krzesimir Debski sagt mir am Telefon, dass er gerade intensiv für ein Schülerorchester in Neustettin komponiere. Zum Partnerschaftsjubiläum mit Polen habe man bei ihm ein Werk für Orchester, Chor und Orgel in Auftrag gegeben. Uraufführung am 21. Juni. 

16. April 2010

Krzesimir Debski lädt mich in sein stattliches Haus ein. Ein Gemälde hängt an der Wand: Fryderyk Chopin auf Mallorca an einem flachen Sandstrand – wobei der kränkliche Komponist im Norden der Insel bei Valldemossa während des ungemütlichen Winters 1838/39 ja nur eine Steilküste erleben konnte. Der als Filmmusikkomponist erfolgreiche Debski berichtet von seinen Aufenthalten in Los Angeles, von seinen weltweiten Tourneen mit der Formation „String Connection“ und stellt fest, dass wir beide uns seit fast dreißig Jahren kennen – demnach länger als unsere jeweiligen Ehefrauen. Er präsentiert mir auch die erfolgreiche Platte „Polish Spirits“, auf welcher der in Krakau mit einer polnischen Frau verheiratete englische Geiger Nigel Kennedy zwei von Debski für Violine und Orchester arrangierte Chopin-Nocturnes interpretiert. Später erzählt mir Debski, dass er in einem Tonstudio eine mit Musik ergänzte Parodie mit der Original-Ton Lech Kaczynski („Kartoffel“) mit dessen Blabla am 1. März bei der offiziellen Eröffnung des Chopin-Jahres gehört habe. Mir gelingt es leider bei mehreren Versuchen nicht, den auch bei „YouTube“ eingestellten Beitrag zu öffnen. 

17. April 2010

Am Samstag läuten um 8.56 Uhr – eigentlich 15 Minuten zu spät – die Kirchenglocken und Polizeisirenen heulen auf. Eine Woche zuvor ist das polnische Präsidentenflugzeug in Smolensk abgestürzt. Um 12 Uhr beginnt auf dem zentralen Pilsudski-Platz die große Trauerfeier, zu der bis zu einer Million Menschen erwartet werden. Die Infrastruktur ist bestens eingerichtet – bei den vorangegangenen Papst-Messen dort hat man genügend Erfahrung gesammelt. Vielfach übernehmen junge Pfadfinder hilfreiche Ordnerfunktionen und verteilen Trinkwasser. Die Straßen rundherum sind abgesperrt, die Metro fährt – wie die anderen öffentlichen Verkehrsmittel – an diesem Tag kostenlos. Ausgerüstet mit Nationalfahnen und Campingstühlen machen sich die Leute auf den Weg. Großbildschirme („Telebim“) zeigen das Geschehen auf dem Podest, auf dem auch Ministerpräsident Donald Tusk und Sejm-Marschall Bronislaw Komorowski, nach der Verfassung jetzt der Interimspräsident, stehen. Wie in den Zeitungen, im TV und auf den Flachbildschirmen in den Metrowagen werden gleichfalls auf der Bühne die Fotos aller 96 Unglücksopfer gezeigt.

Die Fernsehsender sind stets dabei – mit guter Bildführung und ohne Fehlschaltungen. Eine logistische Meisterleistung. In der Nacht live-Bilder, wie Polen an den beiden nun in der Johannes-Kathedrale aufgebahrten Särgen huldvollst niederknien und sich bekreuzigen. Geradezu eine Seltenheit: Kein Mann blitzt mit der Digitalkamera, keine Frau telefoniert gerade mit dem Handy. Die Wartezeit für das Defilee beträgt bis zu acht Stunden.

18. April 2010

Am Sonntagmorgen ist das Fernsehen – in bester Tour-de-France-Übertragungstechnik – allsekündlich mit dabei, wenn der „Kondukt“ mit den Leichen des Präsidenten und seiner Frau nach Krakau fährt. Wie stets werden die zwei Leichenwagen mit Blumen-Wurfgeschossen bombardiert. Kameras sind aber auch am Flughafen postiert und fangen die Ankunft des Hubschraubers von Bundespräsident Horst Köhler und Außenminister Guido Westerwelle ein. Dass die deutschen Medien zum x-ten Male von einer „bewegenden“ Trauerfeier berichten werden, ist vorprogrammiert. Aber in Warschau gibt es währenddessen schon Tausende von Familien, die nicht am „public viewing“ auf dem Schloss teilhaben sondern sich einen schönen Sonn(en)tag im Botanischen Garten machen und sich an einem kühlen Bier laben können. An dem für die ehemalige und aktuelle Hauptstadt verhängten Verbot, nach dem bis 20 Uhr kein Alkohol verkauft werden darf, hält sich zumindest dort kein Gastronom.

19. April 2010

Die verordnete Trauerwoche ist in Polen zu Ende, das Fernsehen sendet wieder kommerzielle Werbespots, Konzerte sind nicht mehr tabu. Doch mit der Versenkung von Kaczinskis Leichnam in die Gruft des Krakauer Wawel-Schlosses am Vortag sind die staatstragenden Zeremonien in Folge des Flugzeugabsturzes zu Smolensk längst nicht abgeschlossen. Heute wird ab 16 Uhr in der zentralen Johannes-Kathedrale eine Messe für und mit Ryszard Kaczorowski abgehalten. Die drei staatlichen Fernsehprogramme sind wieder live dabei. Nachdem der Sarg des letzten Präsidenten der bis 1990 in London angesiedelten polnischen (antikommunistischen) Exil-Regierung nach Warschau geflogen worden war, fand zunächst eine Feier in der Heiligkreuz-Kirche, in welcher bekanntlich das Herz von Chopin fest gemauert in der Säule ruht, statt. Dann erfolgte die offizielle Zur-Schau-Stellung der sterblichen Überreste des 90-Jährigen im Schloss Belvedere. Nun wird der Präsident ohne Staatsgewalt im Pantheon Polens bestattet. Bei der Überführung ist das allgegenwärtige TV aus der Luft und auf Erden dabei und macht mächtig Stimmung mit Musik.

Führend in der diesbezüglichen Hitparade: Mittelalterliche Madrigale, das Chopin-Präludium Nr. 4 in e-moll, Chopins gefühlsduselige Es-Dur-Nocturne op. 9 Nr. 2, die von einem Synthesizer bachtrompetenmäßig interpretierte Nationalhymne in stark verlangsamten Tempo, das Mozart-Requiem und live von Militärkapellen der populäre Trauermarsch aus der Klaviersonate Nr. 2 des polnischen Nationalkomponisten. Und Immer wieder zu sehen: Filmschnipsel mit Lech Kaczinski in schwarz-weiß und „slow motion“. Mit journalistisch integrer Berichterstattung hat diese traurige Stimmungsmache nichts zu tun. 

20. April 2010

Besuch im total renovierten Chopin-Museum schräg gegenüber der gleichnamigen Musikhochschule. Dienstags ist der Eintritt frei. Das so ziemlich einzige Original-Chopin-Relikt dürfte eine Haarlocke des Meisters sein. Ansonsten viele multimediatechnische Anwendungen, die besonders bei den Jugendlichen großen Anklang finden.

Doch im Museums-Shop findet man nicht eine diesbezügliche interaktive DVD, nicht einmal CDs, Noten oder Bücher – sondern nur modernistisch-kitschige Chopin-Tassen.

21. April 2010

In den Läden ist ganz pressfrisch die CD „Road to Chopin“ in den Regalen. Der japanische Jazzpianist Makato Ozone hat sich da beliebten Gassenhauer intellektuell verspielt vorgenommen. Der Asiate hatte sich 2006 durch seine Teilnahme beim Festival „Chopin in Europa“ bei den Polen mächtigen Respekt eingespielt.


Makatao Ozone

Eigentlich hätte der Trompeter Tomasz Stanko bei diesem Silberling mitmischen sollen, doch der alljährliche polnische Jazzmusiker des Jahres erzählte mir schon vor einem Jahr, dass er selbst mit Chopin eigentlich wenig am Hut habe und sein ECM-Produzent Manfred Eicher auch nicht begeistert von einem solchen Projekt sei. Nun ist auf der CD als polnisches Pendant die Sängerin Anna Maria Jopek zu hören. Stanko selbst hält sich noch bis Mitte Mai in den USA auf. Im New Yorker Jazzclub „Birdland“ gedachte er mit „April 10th“ der dramatischen Flugzeugkatastrophe. Die – nun elternlose – Präsidententochter Marta gehöre zu seinen Fans, dies hatte mir Stanko zuvor in einem Interview verraten.

Auch ein neues Heft der Zeitschrift „Jazz Forum“ ist auf dem Markt. Da erblickt man – doch ziemlich verwundert – eine von der Polnischen Jazzföderation in Auftrag gegebene Traueranzeige bezüglich des Smolensk-Unglücks, vorneweg wird der Tod des Präsidenten Lech Kaczynski und seiner Ehefrau Maria beklagt. Hätte die Deutsche Jazzföderation ins Gemeindeblatt „Jazz Podium“ auch eine Traueranzeige gesetzt, wenn Bundespräsident Heinrich Lübke und seine Frau Wilhelmine derart abgestürzt wären? In einem schnell eingefügten redaktionellen Beitrag ist zu lesen, wie viele Jazz-Events infolge der angeordneten Staatstrauer abgesagt wurden.


Leszek Mozdzer

30. April 2010

19 Uhr im Sala Kongresowa, dem an Stalins Kulturpalast angegliederten Rundbau, ein Konzert zu Ehren Chopins. Erstmals war ich dort im Herbst 1983 bei dem Festival „Jazz Jomboree“, wo die Performance von Miles Davis („Sprechchöre: „We want Miles“) geradezu zu einer politischen Demonstration geriet. Nun kommt der 200 Jahre alte polnische Kultkomponist auch verrockt, jazzig und getanzt daher. 

Am beeindruckendsten agiert da der aus Danzig stammende Pianist Leszek Mozdzer: Er improvisiert feinsinnige Chopin-Impressionismen und greift auch mal ins Innere des Flügels. Zuvor und danach gerät die Neuauflage des Projekts „Rock Loves Chopin“ ziemlich derb, und auch der anerkannte Chopin-Interpret Janusz Olejniczak, der ja gerne bei Crossover-Projekten mitwirkt, kann in der Kombination mit einem elektrisch überverstärkten Streichquartett keine adäquate Atmosphäre erzeugen. 


Kwadrofonik

Ganz anders zwei Tage später im Warschauer Vorort Piaseczno. Im Sankt-Anna-Kirchensaal musiziert da Kwadrofonik, besetzt mit zweifachem Klavier und doppelter Perkussion. Besonders reizvoll erklingt das akkordbrechend mit Beethovens Mondscheinsonate umgarnte e-moll-Präludium. Die schmachtende Melodie im den symptomatischen Halbtönen tönte recht sphärische, da die Platten eines Metallophons mit einem Cello gestrichen und so in Schwingung gebracht werden. Fryderyk Chopin sehr ungewöhnlich auf wirklich kreative Art. Pianist Bartłomiej Wasik teilt mir später in einer Antwort-E-Mail mit, dass das Chopin-Programm des Quartetts ganz neu sei und es davon noch keine CD gebe. Schade, denn bei so viel Chopin-Ramsch gereichen die Kwadrofonik-Aktionen zu reinen Ohrenweide.

[Im Freien Radio „Haller StHörfunk“ wird Hans Kumpf am 2. Juni von 18 bis 20 Uhr eine Sendung mit neuen Chopin-Jazz-CDs gestalten und seine Erlebnissen schildern. Das ganze gibt es auch als Livestream:www.sthoerfunk.de

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