STUTTGART. Auch für kammermusikalische Jazzdarbietungen eignet sich die riesige Halle T1 des Stuttgarter Theaterhauses, das nunmehr im Industriemonument der Rheinstahlwerke oben auf dem Pragsattel zwischen Zuffenhausen und dem Talkessel residiert. Zum Rande des Killesbergs strömte die Jazzgemeinde recht zahlreich am Gründonnerstag – die österlichen Jazztage haben neue Attraktivität gewonnen, obgleich nunmehr Fernsehen und Hörfunk außen vor bleiben. Für das Eröffnungskonzert lud Festivalmacher Werner Schretzmeier zwei alte Freunde ein, die in der Schwabenmetropole längst ihre treue Stammkundschaft besitzen: Posaunist Albert Mangelsdorff und Altsaxofonist Charlie Mariano.
Nichts von seiner Schaffenskraft eingebüßt hat der in seinem 75. Lebensjahr stehende Posaunenweltmeister aus Frankfurt. Sein mehrstimmiges Spiel mit den Interferenztönen kultviert Mangelsdorff bestens, ebenso dezent geht er mit dem Plunger-Gummidämpfer um. Lyrische Seriosität mischt sich da mit rhythmischer Intensität, die von dem sensiblen Schweizer Perkussionist Reto Weber weltmusikalisch weitergeführt wird. Effektvoll hierbei die Trommelei auf nordafrikanischem Tongefäß und karibischen Steeldrums. Als kongenialer Begleiter und versierter Solist fungierte Eberhard Weber auf seinem korpuslosen fünfsaitigen Kontrabass. Nach wie vor handhabt er reizvoll das Duettspiel mit sich selbst – dem Digitalspeicher sei’s gedankt.
Am 12. November 1923 wurde Carmine Ugo Mariano in Bosten geboren – und heutzutage verharrt und erstarrt der einstige Charlie-Parker-Mitspieler nicht in apathischer Nostalgie. Stets offen für neue Erfahrungen aus aller Welt ist der Altsaxofonist mit dem beseelten Ton geblieben. Dass man Stücke sorgfältig miteinander einstudiert und er einen Notenpult vor sich stehen hat, ist dem musikalischen Kosmopoliten stets wichtig.
Schon die JazzOpen von 1977 widmeten Charlie Mariano im Beethovensaal der Liederhalle einen ganzen Themenabend, bei seiner Performance im neuen Theaterhaus konzentrierte er sich auf arabische und brasilianische Musik. Die beiden algerischen Brüder Chaouki und Yahia Smahi besorgten auf Oud, Geige und Perkussionsinstrumenten die maghrebinische Authentizität, in die sich der bald Achtzigjährige gewandt einfügte, ohne die individuelle Nuance zu verlieren. Mit dem Argentinier Quique Sinesi, der auf seiner Gitarre sieben Saiten aufgezogen hatte, huldigte er weniger dem Tango als der brasilianischen Samba. Dem Südbadener Kontrabassisten Dieter Ilg war es vorbehalten, im Duo mit dem Amerikaner in japanischer Pentatonik zu schwelgen. Der muntere holländische Pianist Jasper van’t Hof, der mit Mariano bereits vor drei Jahrzehnten in der Formation „Pork Pie“ improvisierte, und der Nachwuchsschlagzeuger Andreas Haberl kamen für das eher konventionelle Jazzmoment auf.
Der zweite Festivaltag brachte ein unvergesslich bleibendes Highlight: die portugiesische Vokalistin Maria Joao. 1956 in Lissabon geboren, stieß sie Anfang der achtziger Jahre auf die internationale Szene vor. Kaum zu glauben, wie frisch und ungestüm Maria Joao sich bei ihrer Performance im Theaterhaus gab: da streute sie Klassik-Belcanto und schwarzafrikanische Gesangsweisen ein, machte dem Stimmakrobaten Bobby McFerrin kräftig Konkurrenz und entwickelte in einer Solo-Nummer mit ungeheurem „drive“ eine verblüffende Polyphonie und Geräuschhaftigkeit. Mal mädchenhaft keck, mal wie eine wilde Furie – eine breite Ausdrucksskala fürwahr. Ihre drei begleitenden Mannsbilder, darunter ihr langjähriger Pianist Mario Langinha, gerieten hier zwangsläufig in den Hintergrund.
Eher kühl wirkt dagegen die norwegische Neuerscheinung Rebekka Bakken, die die Bonner Pianistin Julia Hülsmann in New York kennen lernte. Wie zuvor bei dem Avantgarde-Komponisten Pierre Boulez heißt es in ihrer Kooperation „Cummings ist der Dichter“: Texte des amerikanischen Lyrikers wurden geradezu akademisch streng in der Tradition von Brecht-Weill umgesetzt. Fast rezitativischer Gesang, völlig unbeleckt von improvisationskreativen Scat-Vokalisen. Bestens zu überzeugen vermochte die Sängerin, als sie in einem eigenen Stück mit gedehntem Hall und weitem Raum ein musikalisches Abbild der Fjord-Landschaften ihrer Heimat schuf.
Auf Tänze vieler Länder bezieht sich in Bayern angesiedelte „Quadro Nuevo“: Tarantella, Tango, Klezmer, Flamenco und noch mehr. Das von dem Saxofonisten Mulo Francel angeführte Quartett verfügt über beträchtlicher Entertainment-Qualitäten. Der Libanese Rabih Abou-Khalil hat sich längst einen Namen als Spezialist auf der Kurzhalslaute Oud gemacht. Nicht zuletzt durch sein gewitztes Auftreten hat er sich beim Publikum einen guten Ruf erworben. In seinem Projekt „Schön wie eine Auster“ wirken aus Italien stammend der Obertonsänger Gavino Murgia, der Akkordeonist Luciano Biondini sowie der rasante Klarinettist Gabrielle Mirabassi mit. Keine kulturellen Annäherungsprobleme gab es mit dem US-amerikanischen Drummer Jarrod Gagwin, und der versierte und einfühlsame französische Tubist Michel Godard war danach im Quartett des in Stuttgart ansässigen Pianisten Patrick Bebelaar zu hören. Der baden-württembergische Jazzpreisträger des Jahres 2000 präsentierte mit seiner Suite „You Never Lose An Island“ das progressivste Opus der Osterjazztage. Filigranes,Folkloristisches, Sounds, rhythmische Strukturen und Melodie-Partikel wurden da klug in Beziehung gesetzt. Auf dem Sopransaxofon zauberte Frank Kroll quasi unerhörte „harmonics“- Klänge. Gleichfalls differenziert agierte in dem Quartett Trompeter Herbert Joos – in der Zugabe durfte er seine Show mit dem Alphorn abziehen.
Stilstisch im starken Kontrast hierzu stand Paulchen Kuhn, der in Stuttgart die Tour zu seinem 75. Geburtstag abschloss. Der Mann am Klavier hatte einen edlen Bösendorfer-Flügel zur Verfügung und pflegte meist einen gemächlichen Swing, verschmähte aber auch Dizzy Gillespies Bebop-Nummer „Manteca“ nicht. Bei den jubilierenden Gratulanten zeigte sich der 1925 in Cleveland geborene Trompeter Benny Bailey erstaunlich fit. Sein aus Jugoslawien kommender Kollege Dusko Goykovich hatte in den sechziger Jahren einen aktuellen Single-Erfolg mit einer Flügelhorn-Version von „Yesterday“, nun brillierte er balladesk mit Gershwins „Summertime“. Als Schlagertante wurde einst Greetje Kauffeld („Wir können uns nur Briefe schreiben“), doch die Beziehung zum Jazz hat die Niederländerin nie verloren. Ihre Version des Standards „Do You Know What It Means To Miss New Orleans“ geriet ganz passabel.
Zeitgleich zum Nontett um Paul Kuhn spielten im kleinen Saal T4 zwei Trios in der konventionellen Besetzung Klavier-Bass-Schlagzeug, zunächst die Combo von Ralf Schmid, Veit Hübner und Thorsten Krill, dann die Band des argentinischen Schlagzeugers Daniel Messina. Beides mal hohe Intensität bei Beherzigung von tonalen Normen.
Daniel Messina war am gleichen Abend zuvor schon im Quartett der flotten Hammond-Organistin Barbara Dennerlein beteiligt. Die handwerklichen und bass-füßelnden Fertigkeiten der Groove-Meisterin sind ja hinlänglich bekannt.
Kult-Status bei den Freaks genießt der Altsaxofonist Maceo Parker seit geraumer Zeit. Von seinem Funk ließen sich in der stuhlfreien Halle über tausend Tänzelnde anturnen und eindröhnen. Für jeden etwas – dies offerierten die Theaterhaus Jazztage zwischen Karfreitag und Ostersonntag bestimmt.
Zum Finale am Ostermontag schließlich zwei alte Kämpen deutschsprachiger Natur: Klaus Doldinger und Joe Zawinul. In den 78er Jahren war Klaus Doldinger alias Paul Nero als kommerzieller und schöntönender Pop-Jazzer verschrieen. Inzwischen haben sich die Alternativen von einst mit dem Saxofonisten versöhnt. Vielerlei Filmmusiken („Tatort“, „Das Boot“, „Unendliche Geschichte“, „Liebling Kreuzberg“) bescherten dem fleißigen Künstler einen angenehmen Wohlstand. Mit 66 Jahren, da geht sein Musikantenleben unvermindert weiter. Beeindruckend, wie der erfolgreiche Komponist sich auf seinen Instrumenten unmittelbar ausdrückt – ein Vollblutjazzer ist er eben, wie dies ihm auch Posaunenweltmeister Mangelsdorff bescheinigte.
Mit seiner Formation Passport betreibt Doldinger kein bloßes Reproduzieren seiner selbst. Sein unverwüstlicher Ohrwurm „Sahara“ erfuhr in Stuttgart eine reizvolle Neuauflage: das Intro spielte er agogisch auf einer Einfach-Querflöte, während der Perkussionist Biboul Darouiche, Sohn kamerunisch-kurdischer Eltern, dazu – fast in Muezzin-Manier – eindringlich sang. Dann das stark sequenzierte Thema auf dem Tenorsax. Alle sieben Mann glücklich und vollzählig nach diesem „Sahara“-Trip, Musikalisch und im Flugzeug reist Klaus Doldinger gerne nach Brasilien. Sein auf dem gebogenen Sopransaxofon vorgetragenes „Sambukada“ zählt gleichfalls zu den Hits des in München wohnenden Berliners, der in Düsseldorf mit Dixieland seine Karriere begonnen hatte.
Wiener Schmäh, bulgarisches Zigeunerblut und eine unangefochtene Akzeptanz im Jazzland Amerika – dies vereinigt der 70jährige Keyboarder Joe Zawinul. Der vormalige „Weather Report“-Macher verlegt sich immer mehr auf das Vokale ohne sein reichhaltigen Arsenal an Tasteninstrumenten zu vernachlässigen. Seine Stimme transformiert er elektronisch – wobei er im Sangesduett mit seinem indischen Gitarristen Amit Chatterjee mal wieder weltmusikalische Akzente setzte. Musik bedeutet bei dem jung gebliebenen Zawinul wirklich praktizierende Völkerverständigung. Seine in wechselnden Besetzungen auftretende Combo „Syndicate“ besticht immer durch Energie und rock-rhythmische Intensität sowie durch einen harmonischen Stilmix , wobei die Musik nie bequem wirkt.
Werner Schretzmeier freute sich am Schluss des swingenden Osterfestes, dass mit den 5500 Besuchern die Jazztage im neuen Theaterhaus in „eine neue Dimension“ eingetreten seien. Ausverkaufte Säle waren in der Vergangenheit bei dem Frühjahrsfestival nicht unbedingt die Regel – auch, wenn früher noch Fernsehen und Hörfunk mit von der Partie waren. Trotz alledem: man muss aufpassen, dass man sich in Stuttgart nicht zu sehr auf das -.inzwischen – Etablierte und auf das Alter verlässt…