In einem Saal der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen hat John Ruocco Trompeter, Saxophonisten, Posaunisten, Pianisten und Bassisten sowie Gitarristen um sich geschart. Der Dozent gibt mit Fußstapfen das Tempo vor, ermahnt „please play in time“, bevor die Saxophone geschmeidig einsetzen und die Trompeten mit hellerem sowie attackierendem Klang einfallen. Einige Räume weiter zieht der Big Band Leader Peter Herbolzheimer vor der Masterclass mit jungen Jazz-Virtuosen aus Europa die Zügel straffer. Doch die Musiker sind die strenge Führung bei den komplexen Herbolzheimer-Arrangements wie „Silhouette“ oder „In The Whee Small Hours“ gewohnt. Vier junge Frauen und zwei junge Männer aus Deutschland und Belgien scatten und singen in Duos und in der Gruppe, schnalzen und schnattern, zischen und gurren bevor sie zur Klavierbegleitung der amerikanischen Jazz-Sängerin und Dozentin Juy Niemack den Song „Johnny One Note“ interpretieren. Am Abend wird das Vokal-Ensemble beim Abschlusskonzert der European Big Band Academy das musikalisch und textlich gleichermaßen reizvolle Stück „Lieblingsumarmer“ von Julia Zipprick, einem Mitglied der Gruppe, a capella vortragen. „Ich bin froh und stolz, wenn Teilnehmer des Workshops einen eigenen Beitrag zum Programm leisten und dann auch noch beweisen, dass Jazzgesang in deutscher Sprache so außergewöhnlich sein kann“, lobt Peter Herbolzheimer.
Der Posaunist, Arrangeur und Big-Band-Leader hat hier an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung ein weltweit einmaliges Projekt realisiert: Workshops für die Masterclass junger Jazzmusiker aus ganz Europa sowie für ältere Jazz-Enthusiasten, die seit Jahrzehnten einem anderen Beruf nachgehen, aber mit professionellen Anspruch spielen. Mitglieder dieser neu formierten „GreyHairConvention“ sind ebenfalls aus Ländern wie Schweiz, Österreich, Niederlanden und Deutschland – Klaus Werner Pusch sogar aus Südafrika – in den Schwarzwald gekommen, um gemeinsam mit Dozenten wie dem Posaunisten Joe Gallardo (USA), dem Bassisten Decebal Badila (Rumänien), dem Saxophonisten und Klarinettisten John Ruocco (USA), dem Saxophonisten Heinz von Hermann (Östereich), dem Schlagzeuger Bruno Castellucci (Italien) und auch den legendären Altsaxophonisten Herb Geller und Benny Golson zu spielen. Beim Konzert reihen sich die Jazz-Stars wie selbstverständlich in die Section der Holz- und Blechbläser ein, lassen sich von Peter Herbolzheimer mit sparsamen Handbewegungen durch ein fast vierstündiges Programm führen, das im ersten Set die junge Masterclass, im zweiten die ältere GreyHairConvention präsentiert und schließlich beide Big Bands zu einem Klangkörper mit 13 Saxophonen, neun Posaunen, elf Trompetern und einer doppelt bis dreifach besetzten Rhythmusgruppe kombiniert.
Doch selbst in dieser Massierung bleiben die Bläsersätze stets in Time, die Einätze präzise, der Sound knallig und vollvolumig. Strahlend stählerne Trompeten, sonore und wuchtige Posaunen, singende und zugleich zupackende Saxophone sowie quirlige Flöten und swingende Bassisten und Pianisten vor einem treibenden Schlagzeug. Mitreißende groovt Lobos Latin-Stück Upa Neguinho“. Herb Geller interpretiert trotz seiner inzwischen 78 Jahre Strayhorns „Lush Life“ auf dem Saxophon mit unbändiger Kraft und Intensität, mit dynamischen Abstufungen und harmonischen Variationen in singenden Linien und weiten Spannungsbögen. In „Whisper not“ bleibt der Saxophonist Benny Golson beim Duo mit der scattenden Sängerin Judy Niemack mit warmem und rundem Ton stets der Lyriker des Bebop, der er schon immer gewesen ist. In dem schnellen „Four Brothers“ beweist die „Senioren-Big-Band“ in extremen Dynamiksprüngen, in wuchtigen und satten Bläsersätzen sowie einem hochenergetischen Finale, welche Kraft und Präzision in dieser Formation der reiferen Jahrgänge steckt.
Zehn Tage lang haben die Teilnehmer der GreyHairConvention intensiv mit den Dozenten gearbeitet, ihre beruflichen Verpflichtungen als Elektroingenieur, Manager, Webdesigner, Psychologe, Kaufmann oder Anwalt beiseite geschoben und sich auf ihre Liebhaberei konzentriert. Martin Müller, Diplompsychologe aus Marburg, motiviert es, „mit guten Leuten gute Musik zu machen“. „Da ist eine einmalige Gelegenheit“ stellt er ebenso wie der Anwalt Klaus Werner Pusch aus Kapstadt fest, der bereits vor 37 Jahren einen Workshop mit Joe Viera in Trossingen absolvierte und jetzt feststellen will, „wo es lang geht“. Für den Nürnberger Manfred „General“ Hartlieb ist die GreyHairConvention gar „die Chance meines Lebens“, denn es motiviert und spornt ihn an, gemeinsam mit internationalen Jazzlegenden wie Herb Geller in Workshops zu musizieren und auf der Bühne zu stehen. Gleichermaßen begeistert sind die Dozenten. Judy Niemack ist stolz auf Leistungen der Vokalisten, die teils im freien Jazz, teils in der Tradition zu Hause sind. John Ruocco wäre sofort wieder dabei, wenn Herbolzheimer ihn darum bitten würde. „Die Masterclass ist künstlerisch phantastisch“, schwärmt er, „die GreyHairConvention außergewöhnlich gut“. Die Einschätzung wird verständlich , wenn junge Musiker wie Alex Simu aus Bukarest spielen, den Herbolzheimer mit den Worten vorstellt, „frag´ ihn besser, welches Instrument er nicht spielt“.
Der 72-jährige agile, umtriebige und vitale Peter Herbolzheimer, der mit Unterstützung des Instrumenten-Herstellers Yamaha und von Skoda Auto Deutschland dieses seit Jahrzehnten angestrebte Projekt realisieren konnte, ist glücklich, hofft auf eine Fortsetzung, die er notfalls auch aus eigener Kraft bewältigen will. Es hat ihn schon immer geärgert, dass engagierte „Hobbyjazzer“ nach dem Einstieg in einen Beruf keine professionelle Förderung mehr erfahren haben, dass es eine nicht nachvollziehbare Trennung zwischen Alt und Jung, zwischen Profession und Liebhaberei gibt. In der gemeinsamen Arbeit der Masterclass und der GreyHairConvention werden solche Grenzen niedergerissen. „Das ist ein zentrales pädagogisches Konzept und mein persönliches Herzensanliegen“, sagt der international anerkannte Big Band Leader, der sich in mehr als zwanzig Jahren einen hervorragenden Ruf als Pädagoge in der Leitung des Bundesjugendjazzorchesters, des „BuJazzO“, erworben hat. Dieses Mal lag die untere Altersgrenze der GreyHairConvention bei 45 Jahren. Konsequenterweise will Herbolzheimer künftig solche Einschränkungen aufheben, Jung und Alt noch stärker mischen. „Die einen sollen die Begeisterung, die anderen die Lebenserfahrung weitergeben“, betont der Initiator.
Auch wenn die Zukunft des Projektes noch offen ist, so steht dennoch fest, dass es einer Wiederauflage des Trossinger Konzertes bei „Jazz ahead“ im kommenden Frühjahr im Bremen geben wird. Dieses Projekt sei auch für Außenstehende äußerst attraktiv, stellt der Anwalt und Musiker Pusch fest und fügt an: „Darin steckt ein enormes kommerzielles Potenzial.“