Ein von Schicksalen gebeutelter Künstler
Hans Kumpf erinnert sich seiner Begegnungen mit dem Cool-Trompeter
Sein Leben war voller Tragik, und es endete auch tragisch: Der Jazztrompeter Chet Baker stürzte am 13. Mai 1988 in Amsterdam aus einem Hotelfenster. Unfall oder Suizid? Dies vermochten die Behörden bis heute nicht eindeutig zu klären. 1952 wurde der in Yale (Oklahoma, USA) geborene Baker als 23-Jähriger quasi über Nacht zum Star, als er zusammen mit dem Baritonsaxofonisten Gerry Mulligan die Musical-Ballade „My Funny Valentine“ auf Vinyl bannte. Den Popularitätserfolg (der keineswegs übermäßiges finanzielles Glück bedeutete) konnte er nicht verkraften – er verfiel dem Heroin und verschwand von der Szene. Ab 1974 gelang es Chet Baker zuweilen, sich von der Sucht zu lösen und wieder Konzerte in Europa zu geben.
Ende 1978, also ein Jahrzehnt vor seinem Tod, hatte Chet Baker so in Ludwigsburg einen denkwürdigen Auftritt. Geradezu scheu und verschüchtert hockte er auch im Kulturzentrum mehr oder minder zusammengekauert auf einem Stuhl – ganz das Gegenteil von einem triumphierenden Trompetenstrahlemann. Unsicher und unbeholfen wirkte er da, sprach kaum. Er klammerte sich förmlich an seine Musik, die ihm zur Eigentherapie gereichte und festen Halt zu geben schien. Jeden Ton artikulierte er auf seiner Trompete bedächtig und mit voller Inbrunst, vibratolos, „cool“ mit trauriger Emotionalität. Und wenn er mit seiner knabenhaft hohen Tenorstimme von Liebe und Leid sang, dann geschah dies in zarter Expressivität. Das Konzert wurde vom damaligen Süddeutschen Rundfunk mitgeschnitten, erst 2003 kamen diese Radioaufnahmen bei dem Münchner Label ENJA unter dem Titel „Oh You Crazy Moon“ als CD heraus.
Ich selbst erlebte Chet Baker am 9. Januar 1979, genau einen Monat nach seinem Ludwigsburger Debut, nochmals hautnah bei einer Plattenaufnahme in Stuttgart. Der umtriebige Vibraphonist Wolfgang Lackerschmid hatte das Tonstudio Zuckerfabrik angemietet – und mich als Fotografen für das LP-Cover angeheuert. Nicht nur Lackerschmid blickt voller Stolz auf diese kammermusikalische Duo-Produktion zurück, auch Chet Baker äußerte sich begeistert über seinen deutschen Kollegen. Auf meiner reichhaltigen Zelluloid-Ausbeute entdeckte ich im Nachhinein aber nur ein einziges Bild, das den sensiblen und konzentriert blasenden Trompeter etwas gelöst und sogar lächelnd zeigt.
Chet Baker schenkte mir nach den diversen Begegnungen bei Soundchecks, Studioarbeit und gemeinsamen Abendessen nun so viel Vertrauen, dass er sich bereitwillig interviewen ließ. Voller Bitternis erzählte er mir von seinen schlechten Lebenserfahrungen. Von Plattenproduzenten sei er ausgenommen worden, Manager hätten ihn aggressiv und beleidigend behandelt. Zeitweise musste er gar mit Sozialhilfe sein Dasein fristen. Dass sein Drogenkonsum und die Drogenbeschaffung wohl die Ursache der Misere waren, verschwieg er dabei geflissentlich. Baker in der Opferrolle: „Ich hatte auf der Straße einen Kampf mit fünf Farbigen in San Francisco – ich musste mir alle Zähne ziehen lassen und konnte einige Jahre – von 1968 bis 1972 – nicht spielen.“
Schlechtes widerfuhr dem berühmten Jazzer auch in Deutschland: „Weil ich 1964 in Berlin innerhalb von 24 Stunden zu zwei verschiedenen Ärzten ging, wurde ich festgenommen, inhaftiert und schließlich in eine Irrenanstalt eingeliefert. Nach vierzig Tagen wurde ich auf Veranlassung der deutschen Behörden in die Staaten deportiert und bekam für fünfzehn Jahre Aufenthaltsverbot in Deutschland.“
Unverbrüchlich verbunden bleibt Chet Baker verbunden mit „My Funny Valentine“, einem Song aus dem 1937 geschaffenen „Babes In Arms“ des Autorengespanns Richard Rodgers und Lorenz Hart. Mindestens 600 Künstler haben diese Ballade schon „gecovert“ – aber die von Chet Baker kreierten Fassungen bleiben einzigartig.
Aber reich wurde der geniale Interpret dadurch eben nicht. Am 16. Januar 1979 erklärte mir Baker, kurz vor seinem Auftritt im Stuttgarter AT-Musik-Podium, dies: „Rodgers und Hart sind zwar tot, aber ich nehme an, derjenige, dem „My Funny Valentine“ gehört, erhält auch die Tantiemen. Das erste Mal nahm ich „My Funny Valentine“ mit Gerry Mulligan auf – er war der Leiter der Band, und ich bekam so keine Tantiemen. Später nahm ich es mit meiner eigenen Gruppe auf: „Chet Baker Sings And Plays“. Ich habe keine Ahnung, wie oft es verkauft oder neu aufgelegt wurde. Irgendwo schuldet mir irgendjemand Geld. Aber ich habe mir nicht die Zeit genommen, mich aufzumachen und diese Leute festzunageln. Das ist nicht wichtig. Wenn diese Leute so dringend Geld brauchen, dass sie es stehlen müssen auf diese Art und Weise, dann brauchen sie es mehr als ich. Ich habe über 50 Platten eingespielt. Das einzige Geld erhalte ich bei der Plattenaufnahme, also keinerlei Tantiemen später. Aber so sind diese Schallplattenfirmen: sie verkaufen viele Platten, aber sie sagen einem nie die Wahrheit. Sie sind die vertrauensunwürdigsten Leute, mit denen man Geschäfte macht.“
Chet Bakers musikalisches Credo? Die 1979 von ihm formulierte Antwort: „Ich meine, dass meine Musik meine eigene Persönlichkeit widerspiegelt. Es ist eine Art Darstellung von improvisatorischer Haltung und Fähigkeit, die man nach 35 Jahren Improvisation entwickelt hat. Ich bin in der Lage so zu spielen, wie ich spiele … Man kann darüber wirklich nicht viel sagen: Entweder gefällt einem diese Art von Musik – oder eben nicht. Man kann über Musik eigentlich nicht reden, man muss sie hören.“ Und: „Es gibt so viel Spannung, zu viel Lärm in der Welt – ich glaube, Cool Jazz ist deshalb gerade heute besonders angebracht“, so Chet Baker vor drei Jahrzehnten, zehn Jahre vor seinem mysteriösen Tod.
In letzter Zeit sind etliche Bücher über den von Schicksalen gebeutelten Künstler auf den Markt gekommen. Ein von mir bei der Vorbereitung für ein Clubgastspiel in Stuttgart gemachtes Foto wurde auch in der von James Gavin recherchierten Dokumentation „Deep in a Dream. The Long Night of Chet Baker“ abgedruckt. Zu sehen sind dort Chet Baker und Lebensabschnittsgefährtin Ruth Young an Gesangsmikrofonen. Als Ruth Young dieses Bild entdeckte, schrieb sie mir – im aktuellen Internet-Zeitalter – dankend eine E-Mail und lobte den gelungenen Schnappschuss.
20.30 – Schwäbisch Hall, Kino im Schafstall, JazzArt Festival, Weltpremiere. Hans Kumpf in „We Remember Chet Baker“. Ein Film von Hagen Kälberer.