Erwin Lehn starb 90-jährig

STUTTGART. Den letzten Kontakt zu Erwin Lehn hatte ich im September letzten Jahres, als bei mir antelefonierte und sich gerührt über seine in der Zeitschrift „Jazz Podium“ veröffentlichte Würdigung bedankte. Das Festival „JazzOpen Stuttgart“ hatte ihm im Sommer zu seinem 90. Geburtstag ein ganzes Konzert gewidmet, bei dem er selbst noch kurz auf der Bühne stand und dirigierte. Zu meinem Geburtstag gratulierte er regelmäßig mit einen selbst synkopisch notiertem „Happy Birthday“ – den Termin konnte er niemals vergessen, denn sein eigenes Wiegenfest fand am gleichen Tag statt, nämlich am 8. Juni. So hielten wir Zwillinge stets zusammen. Zur Feier seines 80. Geburtstags lud er mich ein – so wie auch die schwedische Sängerin Bibi Johns, mit der er früher viele Aufnahmen und Auftritte hatte. Zukünftig werden die gegenseitigen Gratulationen entfallen. Erwin Lehn verstarb am vergangenen Samstag.

Interessant für mich war Erwin Lehn auch als Lehrmeister. Mitte der siebziger Jahre spielte ich gelegentlich mit meiner Klarinette in seiner Big Band der Stuttgarter Musikhochschule die zweite 4. Trompete. Einen falschen Ton betrachtete er damals geradezu als persönliche Beleidigung. Big-Band-Disziplin an die junge Generation weiterzugeben bedeutete für ihn eine Herzensangelegenheit. In den 50er Jahren durfte er noch nicht in der noblen Musikantenschmiede tätig sein – da wurde, wie er gerne erzählte, von Rektorenseite mit der Einbeziehung von Jazz eine „Verproletarisierung der Musik“ befürchtet.

Von Hans Kumpf

In Deutschland wurden Big-Band-Dirigenten bekannt, die sich tänzelnd als „smiling“ Entertainer vor ihren Orchestern präsentierten, beispielsweise Kurt Edelhagen, Max Greger und Paul Kuhn. Erwin Lehn gab sich dagegen stets sachlich und nüchtern, auch wenn er anfangs als „The German Jazz Hurricane“ apostrophiert wurde: vierzig Jahre bestimmte er beim Süddeutschen Rundfunk die Big-Band-Musik, wobei er die ganze Skala von schlagerhafter Gebrauchsmusik bis zum avancierten Jazz abzudecken hatte.

Der am 8. Juni 1919 in Grünstadt (Pfalz) geborene Erwin Lehn lernte Geige, Klavier, Vibraphon sowie Klarinette und spielte zunächst im Ensemble seines Vaters. Ab 1948 leitete er das Radio-Berlin-Tanzorchester. Seinen Dienst in Stuttgart trat Lehn, wie er selbst immer gewitzt betonte, am 1. April 1951 an. 

Gastsolisten bei seiner Jazz-Aktivität waren nun Größen wie Benny Goodman, Miles Davis, Tony Scott, Oliver Nelson, Maynard Ferguson, Chet Baker und Stéphane Grappelli. Stars wie Quincy Jones, Bill Holman und Don Ellis arrangierten auch für ihn. Später eigene Orchester formierten einige seiner Band-Mitglieder: Horst Jankowski, Peter Herbolzheimer, Klaus Weiss – und Ernst Mosch, dessen erste „Egerländer“ seine damaligen Jazz-Kollegen und somit originale „Lehn-Lehen“ waren.

Seit 1974 betrieb Erwin Lehn noch wichtige Nachwuchsförderung in der Big Band der Stuttgarter Musikhochschule. Etliche Talente hatte Professor Lehn dort entdeckt und in seinen regulären Klangkörper übernommen. Sein künstlerisches Credo: „Ich versuche, alles in der Musik so kultiviert wie möglich zu spielen. Eine gewisse Ästhetik muss vorhanden sein – das fängt an bei der Intonation und der Präzision. Die entsprechenden Musiker müssen herausgesucht werden, die Arrangeure haben ein gewichtiges Wort mitzureden. Dazu kommt die Raumakustik. Die äußeren Einflüsse machen sich bemerkbar, am Zeitgeschmack kann man nicht vorbeigehen. Man muß immer wieder versuchen, das anderswo Gehörte zu sortieren und das Positive davon auf die Big Band zu übertragen.“

Auch im Show-Gewerbe hatte sich Erwin Lehn getummelt, ohne freilich selbst in Star-Allüren zu verfallen. Er bereitete den musikalischen Background für Caterina Valente, Josephine Baker, Marika Rökk, Bill Ramsey, Bibi Johns, Bully Buhlan, Peter Alexander, Udo Jürgens und Anneliese Rothenberger. Toleranz war für Lehn als Leiter eines swingenden Radio-Orchesters eine Pflichtübung.

Sehr schmerzlich berührte es Erwin Lehn, als der alte SDR-Intendant Hans Bausch Ende der 80er Jahre verfügte, dass die Gelder für das vormalige „Tanzorchester“ um etwa die Hälfte reduziert werden sollten. Wichtige Solisten wie der Trompeter Johannes Faber und der Posaunist Joe Gallardo wanderten zum NDR ab. Das 40jährige Bestehen seiner Big Band feierte Lehn mit einer TV-Aufzeichnung 1991 bei den österlichen Theaterhaus-Jazztagen. Wenige Monate später demissionierte der aufrichtige Künstler 72jährig beim Funk, führte jedoch seine Arbeit an der Musikhochschule zunächst weiter. 1992 übernahmen dann die beiden Trompeter Karl Farrent (Bietigheim-Bissingen) und Rudi Reindl (Benningen) die Geschäftsführung des swingenden Unternehmens, das mittlerweile angepasst als „SWR Big Band“ firmiert und auswärtige Dirigenten von Fall zu Fall verpflichtet.

Man sah den Pfälzer immer wieder bei der Verleihung der „Germa Jazz Trophy“. Doch als Lehn im November letzten Jahres die Auszeichnung an Carla Bley übergeben sollte, musste er wegen Krankheit absagen. Und: Der Big-Band-Boss bekannte sich bleibend als „Blauer“: nicht der „blue notes“ wegen – Erwin Lehn war populärer Fan der „Stuttgarter Kickers“.

Am 20. März verstarb Erwin Lehn in Stuttgart.

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