Donaueschinger Musiktage 2001

DONAUESCHINGEN.- Deutschland im Herbst 1977: In Donaueschingen wird der Empfang beim Fürsten zu Fürstenberg wegen der Entführung von Hanns-Martin-Schleyer gestrichen. 24 Jahre später müssen sich die Neue-Musik-Spezialisten im Schloss an der Donauquelle mit einem (letztendlich doch sättigendem) Stehempfang begnügen – und auf ein ausgiebiges Tafeln verzichten. Der 11. September 2001 und der Krieg in Afghanistan finden immer wieder ihre Reflexion auch in Ansprachen, in Aufführungen und deren Rezeption. So benennt der Schweizer Peider A. Defilla den 2. Akt seiner virtuellen Oper „Donaumusik 2001“ Strawinsky folgend „Histoire du soldat“ und lässt an die Wände des fürstlichen Sudhauses originale Filmaufnahmen aus bombenden Kampfjets projizieren. Elektronische Musik und die Textcollagen entlarven hierbei erst recht die makabren Kriegshandlungen.

Remus - MusikkarusselTechnische Materialschlachten bestimmen die Donaueschinger Tage für Zeitgenössische Tonkunst immer mehr. Aufwändige Aufbauten der Bühnen verbrauchen in den diversen (Turn-) Hallen mitunter fast ein Drittel der Kapazitäten. Dass die im Saale verteilten Musiker den Dirigenten via Video-Übertragung auf einem TV-Monitor sehen, gehört jetzt schon zur Routine. Vielfach haben inzwischen die Notenpapierblätter ausgedient: Die kompositorischen und dirigistischen Kommandos erscheinen nunmehr flachbildschirmig auf TFT-Displays.

Armin Köhler, leitender Musikredakteur beim Südwestrundfunk in Baden-Baden, engagiert sich vehement für die multimediale Emanzipation der Musik. Das reine Radiophone mag hier verloren gehen, freilich war die Musik nie nur zum Hören da: „live“-Konzerte erfreuten jeher mit Augensinnlichkeit. Wenn in Donaueschingen in Gebäuden und „open air“ mehr und minder raffinierte Installationen im Dauerbetrieb laufen, werden an dem einkaufsoffenen Oktobersonntag viele Leute angelockt und womöglich für die ungewohnten Klänge der Avantgarde interessiert gemacht. Buntschillernd allenthalben die vom Computer angesteuerten Musikmaschinchen des Oberschlesiers Christof Schläger, faszinierend und der Brigach entlang scheppernd das rummelplatzmäßige Musikkarussell des Franzosen Jacques Remus. Entsprechend eines Spieluhrensystems werden vom drehenden Kreisel aus maschinell Schlagzeuginstrumente angeschlagen, und leibhaftige Akteure erzeugen schwindelfrei durch bloße Handbewegung elektronisch generierte Tonfolgen. Zu Jazz-Rhythmen und zu modischem Techno ist es nicht mehr weit.

SchnebelDie vielen „Installationskonzerte“ gingen an den drei Festivaltagen teilweise unter: 23 Uraufführungen von Komponisten aus 11 Ländern galt es zu bewältigen. Wirklich kreative Novitäten waren kaum zu konstatieren – das endgültige Urteil vermag die Zeit fällen. In Erinnerung blieben zunächst bei Dieter Schnebels Komposition mit dem Titel „NN“ ein paar Gags, vor allem wie die elf Vokalisten den Raum singend vereinnahmten, zunächst rennend, dann mobiler mit Kickbord, Fahrrad, Krankenrollstuhl und Moped. Der nun 71jährige Schöpfer der „Maulwerke“ ließ seine Künstler am Boden laut atmend wellenartige Turnübungen vollführen oder militärisch marschieren – mit kindischem Lied auf den Lippen. Wie Cage und Kagel inszenierte der gelernte Pfarrer Schnebel seine gesellschaftskritische Musik nicht ohne Humor.

Barbara HanniganUnvergesslich bleiben dürfte auch die glockenhelle Stimme von Barbara Hannigan. Die kanadische Sopranistin zelebrierte beim Kammerorchester Hilversum den Solopart in „Here (To Be Found“ des Holländers Michel van der Aa, der sich mit Sphärenhaftigkeit und Passions-Lamentos etwas an Krzysztof Penderecki anlehnte. Der Amerikaner Alvin Lucier entwickelte mit dem gleichen Orchesterapparat bei „Ovals“ zeitintensive Cluster-Ergänzungen zu einem glissandierenden Sinus-Ton. Rhythmische und melodische Einfachheiten und viele Stereoeffekte waren Clemens Gadenstätters „Polyskopie“ zu vernehmen. Kurz und bündig samt wuseligen Einzelaktionen und einem versöhnenden Schluss konzipierte der Japaner Takuya Imahori sein „Circle Of Time“.

Zu schablonenhaft und plakativ geriet dagegen im Eröffnungskonzert die Musik zu dem Videotryptychon „Sintflut“ von Detlef Hausinger. Seit dem Stummfilm und dem erfolgreichen Hollywood-Tonsetzer Max Steiner hat die Kinomusik doch an Ästhetik und Ausdrucksmitteln hinzu gelernt.

Zu wenig Aktion für eine Konzertbühne bot Martin Smolka, der den eigentlich überaus virtuosen Posaunisten Mike Svoboda lediglich lange Töne blasen ließ und diese mit einem künstlichen Nachhall versah. Dann lieber gleich Alphörner am Originalschauplatz…

Das Abschlusskonzerts des SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg fand unter der kompetenten Leitung von Sylvain Cambreling in der noblen Donauhalle A statt. Avancierte und inzwischen vertraute Instrumentaltechniken wurden kongenial verarbeitet. Da kontrastierten schnarrende und flimmernde Streicher mit impulstönigem Banjo (Jürg Widmanns („Implosion“), Deja-vu-Floskeln wurden sinnfällig kombiniert (James Dillons „La Navette“) oder Filigranes aktionsreich arrangiert („Orpheus Bücher“ von Beat Furrer).

Unter die Uraufführungskomponisten und –interpreten mischten sich bei den Donaueschinger Musiktagen 2001 etliche bekannte Jazzer, die sich dann jedoch relativ weit vom eigentlichen Jazz-Idiom entfernten. Ein Indiz dafür, dass die widersinnige Kluft zwischen E und U, zwischen Klassikern und Swinger, überbrückt ist. Vor dreißig Jahren noch wurden heftige Grabenkämpfe ausgefochten, heuer gibt es im Prinzip keine stilistischen Konflikte mehr.

Sven-Ake JohanssonDer Schwede Sven-Ake Johannson trommelte einst fuchsteufelswild bei dem schönklangszertrümmernden Saxofonisten Peter Brötzmann und bei dem Pianisten Alexander von Schlippenbach. Inzwischen ist er zum nüchternen Notentechnokraten konvertiert. Sein Auftragsopus „Polis, Wachs und Pomade“ offenbarte in der Titelgebung mehr Gewitztheit als im musikalischen Endresultat. Die Blechbläser und Streicher vom Kammermusikensemble Neue Musik Berlin verharrten leise in unteren Dynamikabstufungen, intonierten einzelne Cluster und produzierten klangfarbliche Luftgeräusche. Gleichfalls ohne emotionale Expressivität hatte Ute Wassermann zumeist Einsilbiges zu sprechen. Im Ensemble zwei Interpreten, welche man als Jazzinstrumentalisten kennt, nämlich der Trompeter Axel Dörner und der Posaunist Radu Malfatti (der zudem noch mehrmals bei einer Installation in der antiken Hofbibliothek auftrat).

Werner Werthmüller absolvierte an der Berner Swiss Jazz School eine Schlagzeugausbildung und schlug als Komponist bei „Die Zeit, eine Gebrauchsanweisung“ recht derb drein. Im Kamermusikensemble dröhnte der Elektro-Gitarrist Stephan Wittwer, der übrigens 1977 in Wolfgang Dauners experimentierfreudiger „Radio Jazz Group Stuttgart“ spielte. Immerhin hörte man im Werthmüller-Werk bei den drei Kontrabässen pizzicato mal eine swingende Linie.

Völlig von seinen früheren Jazzattacken losgelöst hat sich der österreichische Keyboarder Wolfgang Mitterer in seiner Eigenschaft als Komponist. Bei dessen „Konzert für Klavier, Orchester und Electronics“ erledigte Thomas Larcher fingerflink an Tasten und im Geflügel den Solo-Part, während das SWR-Sinfonieorchester primär Einzelaktionen beisteuerte, die in einen fetten Gesamtklang mündeten.

Das obligatorische Jazzkonzert hatte es nicht immer leicht in Donaueschingen. Mal geriet es zu bieder und zu seicht, mal wirkte die Musik zu verkrampft und kopflastig. Und heuer musste sich der Südwestrundfunk in seinem Pressegespräch den Vorwurf gefallen lassen, die jüngste „SWR Jazz Session“ habe gar keinen Jazz, sondern weltläufige Folklore geboten. Der Jazz definiert sich immer wieder aufs Neue, wichtig ist die musikalische Heimat und die Lebenserfahrung der Musiker. Jazz ist von Anfang an ein Produkt verschiedener Kulturen und hat seither für visionäre Fusionen ein offenes Ohr gehabt.

Die alten Normen von klein geschriebenem „swing“, individueller Tongebung, spezieller Phrasierung und gar europäischer Harmonisierung verlieren an Gewichtung. Aber die Improvisationslust sollte nie ihre jazztypische Dominanz einbüßen. Kontinuierlich präsentierten frühere „SWR Jazz Sessions“ die reizvolle Szene Frankreichs. Der Kontrabassist Renaud Garcia-Fons verbuchte als Solist und als Ensemble-Initiator bei anderen Festivals zu Recht sensationelle Erfolge. Eine „Konzerturaufführung“ seiner mit Overdubbings produzierten CD „Navigatore“ erarbeitete er nun auftragsgemäß für Donaueschingen. Gewitzt manövrierte er sich mit seiner international besetzten Gruppe durch die globale Musikwelt: Folkloristisches aus der ganzen Erde nicht divergierend, sondern als stimmige Einheit.

Renaud Garcia-Fons

Steter Kulminationspunkt und Integrationsfigur an der „front line“ blieb Garcia-Fons. Der auch bei einem Syrer ausgebildete Kontrabassist ist besonders mit der arabischen Musik bestens vertraut, kann aber seinen großvolumigen Fünfsaiter auch wie die chinesischer Geige Erhu erklingen lassen oder gemeinsam mit dem Flamenco-Gitarristen Antonio Ruiz soundauthentisch Spanisches zupfen. Mit seinem bewährten Landsmann Jean-Louis Matinier, der sein Knopfakkordeon jetzt nur akustisch und nicht elektronisch erweitert traktierte, bildete der Bandleader bei diffizil auskomponierten Parts ein stetes Gespann. Ein kommunikatives und fulminantes Duo zwischen dem marokkanischen Darbouka-Spieler Dahmane Khalfa und dem aus UruguayJean-Louis Matinierstammenden Perkussionisten Negrito Trasante gehörte zu den Höhepunkten des Konzerts. Solistisch im Hintergrund hielt sich dagegen der bulgarische Posaunist Gueorgiu Kornazov, während der Klarinettist Bruno Sansalone mit einem „unschottischen“ Dudelsack für eigene Exotik sorgte. Dass Blockflöten und Tin-Whistle nicht allzu brav erschallen müssen, demonstrierte Pierre Baragno. Die eigentlich auf Alte Musik spezialisierte Lautenistin Claire Antonini spielte noch das iranische Saiteninstrument Sandor, die türkische Saz und eine kurdische Tanbura. Und dies alles verkam nicht zum Allerweltsmischmasch, sondern zu einer Harmonie der Kulturen. Eine Gesamtfolklore der Welt als Realität und nicht mehr imaginär. Renaud Garcia-Fons, 1962 bei Paris geboren, ist dieses Kunststück besser gelungen als entsprechende Projekte von Peter Maffay und Eberhard Schoener.

Freilich: Free Jazz oder avancierte Avantgarde war dies nicht. Hübsche Melodien und mitreißende Rhythmen gingen ins Ohr. Langweilig wurde es bei „Navagatore“ nie – und dies darf man getrost als Qualitätsmerkmal nehmen. (Sendung des Garcia-Fons-Spektakels am 17. Januar 2002 ab 19.05 Uhr auf SWR2).

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