Das „Peter Brötzmann Chicago Tentet“ in der Rüsselsheimer Jazzfabrik 26. April 2011

Fotos und Text: Klaus Mümpfer

Peter Brötzmanns Chicago Tentet ist großartig, unberechenbar, wild, orgastisch und kraftvoll. In dem von Powerplay geprägten Konzert der Rüsselsheimer Jazzfabrik gibt es aber auch Passagen, bei der die Musiker mit ihrem Atem die Luftsäulen in den Instrumenten zum Klingen bringen. Eingebettet in das hochenergetische, pulsierende Spiel sind getragene, fast melodische Bläser-Sätze mit hymnischen und sakralen Klangfarben, die Joe McPhee mit ekstatischen Schreien kurzzeitig unterbricht, warme Duos von Tuba und Altsaxophon, von Posaune und Cello sowie wiederholt Unisono-Duette von Joe McPhee und Peter Brötzmann. Doch dann steigert die Band Intensität und Dynamik. Sie legt an Spannung und Kraft zu, mündet in Crescendi, die Brötzmann zum Konzertschluss mit einem Luftsprung beendet. Inmitten schierer Kraft und Chaos lassen Johannes Bauer, Jeb Bishop, Mats Gustafsson, Ken Vandermark und Joe McPhee Trompete, Saxophone und Posaunen schnattern, während Per-Ake Holmlander die Tuba in Stakkati vorantreibt, das Cello Fred Lonberg-Holm von kreischt und krächzt, als er mit dem Bogen den Dorn des Instrumentes streicht, während Brötzmann mit Vandermark in ein expressives Ruf-Antwort-Spiel einsteigt. Aber die Musiker sind klug genug, um mit langsamen und sensiblen Momenten den Zuhörern eine Pause zu gönnen, bevor die Hölle wieder losbricht. 

Einmal erhält Bassist Kent Kessler die Chance, auf dem Kontrabass eine melodische Linie zu zupfen. Sie wird von den beiden Schlagzeugern Paal Nilssen-Love und Michael Zerang mit den Besen begleitet, die ihrerseits die Soli von Bauer und Brötzmann unterlegen. Für ein paar Takte bläst Joe McPhee sogar seine Pocket-Trompete wie einst Miles Davis cool und verhangen. 

Doch neben Brötzmann und seinen Bläserkollegen ist es immer wieder Nilssen-Love, der mit ungewöhnlich hartem Schlagzeug die Band in explodierende Tutti treibt, während Zerang eher vielschichtig flexibel pulsiert. Lonberg-Holm zupft und streicht sein Cello mit extremen harmonischen Verfremdungen, sorgt immer wieder mit raffinierten elektronischen Loops und Samples für Sounds, die die Full-Band-Improvisationen anreichern, aufbrechen oder abrunden. Es gibt keine notierten Vorgaben. „Ich schreibe keine Noten und lese keine Noten“, hat Peter Brötzmann einmal schroff erklärt. In diesem Konzert auf der Hinterbühne des Theaters war es allein Vandermark, der in seiner „Komposition“ mit sparsamen Handbewegungen das kollektive Chaos dirigiert. 

Es war das Free Jazz Meeting von Joachim-Ernst Berendt 1970 in Baden-Baden, als der legendäre Don Cherry den Saxophonisten Brötzmann anerkennend als „machine gun“ bezeichnete, weil er schneller und attackierender als ein Maschinengewehr blies. In diesem März feierte Peter Brötzmann seinen 70. Geburtstag. Er ist reifer geworden und sagt, dass man Free nur als die Möglichkeit verstehen kann, alle Materialien zu verwenden. Ungeachtet dessen hat er die Expressivität seines Spiel bewahrt – ebenso wie seine Liebe zu größeren Formationen. 1997 wurde das Chicago-Tentet zunächst als offene Formation geplant, immer jedoch als ein ausschließlich der freien Improvisation verpflichtetes Ensemble. In den Musikern des heutigen Chicago-Tentets findet der „Berserker“ Brötzmann gleichgesinnte und adäquate Partner, die sein musikalisches Konzept respektieren und mit eigenen Ideen erweitern. 

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