Stephan Wittwer in der Rüsselsheimer Jazzfabrik, 15. Juli 2003

„Musik ohne Bilder“ nennt der Schweizer Gitarrist und Elektroniker Stephan Wittwer seine Improvisationen. Und dennoch weckt diese Symbiose aus Gitarren-Sounds und Computerklängen Assoziationen an Klangbilder, die durch das Dunkel in der alten Werkshalle verstärkt werden: Atemgeräusche, Dampfmaschinen, Fließbänder, heulender Wind, rauschendes Wasser. Ein Sound-Orkan, der nicht zertrümmert, sondern die Ohren durchbläst und das Gehirn öffnet. Aber auch ein Phongewitter, das zwischendurch bis an die Schmerzgrenze führt.

Gitarren stehen im Mittelpunkt der Reihe improvisierter Musik in der Rüsselsheimer Jazzfabrik. Und so ist es nur konsequent, dass beim Abschluss die Gitarre nur noch Mittel zum Zweck ist. Erzeuger von Grundtönen, die der Computer aufnimmt und die in Programm bis zur Unkenntlichkeit reduziert und verfremdet werden. Ein Spiel mit Kontrasten, radikal und ungebärdig, destruktiv und konstruktiv zugleich. Wittwer ist ein Fundamentalist der freien Improvisation, fernab jeglichen Harmoniestrebens und dennoch im tiefsten Herzen ein Romantiker.

Es beginnt mit ein paar pfeifenden Sinustönen und „rosa Rauschen“. Minimalistisch, Farbtupfern gleich, dringen sanft gezupfte Töne durch, die im Raum wandern. Von Ferne ein zarter Glockenklang über schwebenden Sounds. Hart angerissene Saiten zerhacken die musikalische Impression und strukturieren die Form neu. Die Gitarre knarzt, die Elektronik wummert und donnert in den tiefsten Bässen. Es knallt und zischt – und dann wieder ein akustischer Break. Brachialität gegen Soundscapes.

Wittwer wiederholt Geräusch-Floskeln und setzt sie gegen eine Single-Note. In Variationen kostet der Schweizer die vielfältigen Abstufungen der Klangerzeugung aus, setzt erneut Gegensätzlichkeiten und das Spiel beginnt von vorn. Module einer einstündigen Spontan-Komposition.

Dynamiksprünge kennzeichnen den Verlauf, in denen kreischende Eruptionen Jimmy Hendrix ebenso assoziieren wie Sonny Sharrock. Hardcore steckt darin, Jazz und Dub. Ein Sound erwächst aus dem anderen. Freie Improvisationen mischen sich mit geplanten Texturen. Manchen Geräuschkulisse erinnert an die S-Bahn, die wenige Meter hinter den Mauern der früheren, jetzt nüchtern-kahlen Opel-Fabrikhalle vorbeirauscht. Aus dem Phongewitter schält sich ein leise verklingender, fast jazziger Gitarrenlauf heraus, der in zarten Glockentöne mündet, die wiederum auf elektronische Klangflächen gebettet wird.

Ein anstrengendes Konzert, das bislang ungehörte Klänge zu Collagen zusammenschweißt. „Joyful noise“ hat ein Kritiker dies treffend genannt. Eine Musik, bizarr und aufrührerisch, die die Zuhörer fordert. Die müssen Offenheit und Neugier mitbringen, um ihr zu folgen. Doch wer dies tut, ist um ein Erlebnis reicher.

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