JazzOpen Stuttgart 2003

Richie Beirach

STUTTGART. Programmatisch hatten die JazzOpen-Macher von Anfang an den eigentlichen Jazz in den kammermusikalischen Mozartsaal verbannt, ein Raum mit guter Akustik und beschränkter Sitzplatzanzahl. Weder Freiluftgetöse, noch Massenveranstaltung also. Künstlerisches Feigenblatt oder Geldmangel, dass hier zunächst die regionale Szene präsentiert wurde? Freilich, auf der Bühne des Liederhallen-Mozartsaals erlebte man bei den legendären „Treffpunkt Jazz“-Konzerten auch schon Stars wie Oscar Peterson, Dizzy Gillespie, Cecil Taylor und Stan Getz.

Das swingende Event eröffnete der Tübinger Pianist Rainer Tempel, 2002 Jazzpreisträger des Landes Baden-Württemberg. Der 30Jährige begrüßte die getreue Zuhörerschaft süffisant „zu einem der Jazzkonzerte des Festivals“. Was er dann mit seinem Quintett namens „GmbH“ bot, lässt sich als Neo-Hard-Bop bezeichnen, vom Bandlieader solide komponiert und von der Combo gewissenhaft interpretiert. Trompeter Axel Schlosser stieß zupackend ins Horn, während Saxofonist Jochen Feucht auf Sopran und Tenor eher zurückhaltend agierte. Bassist Markus Bodenseh und Schlagzeuger Eckard Stromer, der mittlerweile in der Big Band des Hessischen Rundfunks trommelt, bildeten eine zuverlässige Rhythmusgruppe. Bezüge zu Musik des alten Europas gab es nur, wenn Rainer Tempel auf dem Steinway barockale Linien in „geraden“ Achteln intonierte.

Jacques Loussier erfand einst „Play Bach“, sein Pianistenkollege Leonid Chizhik spezialisiert sich jetzt auf Mozart, Uri Caine verarbeitet immer wieder Mahler – und Richie Beirach bringt dem Jazzpublikum neuerdings den Italiener Monteverdi nahe. Geboren 1567 in Cremona, gestorben 1643 in Venedig war der Frühbarockmeister vor allem mit Madrigalen und der wegweisenden Oper „L’Orfeo“ hervorgetreten. Aus dieser 1607 in Mantua uraufgeführten „Favola in musica“ nahm sich Beirach ein schlichtes Lamento vor – mehr mit romantisierenden Schwelgereien als mit barockem Ebenmaß. Zusammen mit Jiri „George“ Mraz am Kontrabass und Gregor Hübner an der Violine entstand eine homogene Musik, welche die Grenzen zwischen komponiertem Original und swingenden Improvisationen verwischte.

Fetziger arrangiert war die Bagatelle Nr. 3 aus op. 6 des ungarischen Tonschöpfers Bela Bartok (1881 – 1945), der immerhin ja auch für Benny Goodman komponierte. Nach dissonanten Cluster-Tremoli der drei Instrumente folgten free-jazzig Punktualismen, um dann um dann in einen kraftvoll-bluesigen Jazz zu münden. Ungarische Zigeunermusik schimmerte durch, und die phrygische Scala des spanischen Flamencos blieb unüberhörbar bei einer „Intimate Impression“ des kaum bekannten katalanischen Komponisten Federico Mompou (1893 – 1987). Auch hier das Tempo lento-langsam und fast ein Klagelied. Aus dem ursprünglich rhythmisch hämmernden „Stabat Mater“ von Giovanni Battista Pergolesi (1710 – 1736) machte das Jazz-Trio eine gefühlvolle Ballade.

Schließlich doch eine neue Version von „Play Bach“. Richie Beirach, zurzeit Professor an der Musikhochschule Leipzig, erkannte ebenfalls, dass es sich zum „Siciliano“ in G-Dur des Thomaskantors trefflich jazzen lässt. Auch hier eine unverkrampfte Verbindung von klassischer Kultur mit zeitgenössischem Improvisieren. Eine ernstzunehmende U-Musik für Intellektuelle. Ganz im Gegensatz zu dem stampfenden Stumpfsinn, mit dem der englischer Rapper Rob Birch mit seiner Formation „Stereo MC’s“ zur gleichen Stunde bei der Open-Air-Veranstaltung der JazzOpen den Innenhof der LBBW volldröhnte.

2002 traten die Stuttgarter Philharmoniker bei den JazzOpen in voller Besetzung an und musizierten unbeschwert mit solchen namhaften Solisten wie Charlie Mariano, Randy Brecker und Christof Lauer. Die Kooperation mit dem städtischen Sinfonieorchester könnte zu einer Dauereinrichtung und zu einem Markenzeichen dieses Juli-Festivals werden. Berührungsängste und Animositäten zwischen den feinen Klassikern und etwaigen aufmüpfigen Jazzern gehören längst der Vergangenheit an. Heutzutage herrscht ein herzliches Einvernehmen, musikrevolutionäre Großtaten sind freilich nicht zu erwarten.

 Im Mozartsaal fanden auf dem Podium die Streicher der wieder von Bernd Ruf einsatzfreudig angeleiteten Philharmoniker und diverse Jazzsolisten gerade noch genügend Platz. Der Freitagabend begann mit einem Werk des 25jährigen Pianisten Kristjan Randalu, der 1996 bei „Jugend jazzt“ und später auch bei „Jugend musiziert“ siegte. Der gebürtige Este, der in Karlsruhe lebt und alsbald in New York studiert, ist zugleich strebsam als auch talentiert. Erklärtermaßen übernimmt in seinem uraufgeführten Opus „Nach dem Anfang vom Ende“ das Orchester nach und nach die Improvisationsstruktur des solierenden Klaviers und „gipfelt schließlich in einer Gruppenimprovisation“. Die vier Sätze nennen sich fast programmmusikalisch „Der Weg weg“, „Eine Ahnung in der Vergangenheit“ „Spielchen und Rechenschaft“ sowie „Regenbogen“. Heftige Staccati-Aktionen, Riffs und Repetitionen, schicksalsschwere Filmmusikattitüden, perlendes Solistenspiel und „Minimal Music“ verbinden sich letztlich zu einem freundlichen Gesamtkunstwerk.

 Vehementer und jazziger ging der Saxofonist Peter Lehel vor, der sich an das Land seiner Vorväter erinnerte, nämlich an Ungarn. Seine „Hungarian Rapsody“ mündete fulminant in ungarische Tänze, bei denen offensichtlich die Einflüsse der Musik der Zigeuner und Juden dominierten. Der Pianist und Geiger Gregor Hübner war in seiner puren Eigenschaft als Komponist mit von der Partie. Den Solistenpart hatte er hierbei dem aus Luxemburg stammenden Conga-Trommler Jerome Goldschmidt übertragen. Vielschichtig und wuselig ging es zwischen den Streichern und dem Perkussionisten zu, und gemeinsam ließ man noch Vokales los. Eine harmonierende Spaßgesellschaft von Jazzern und Klassikern fürwahr.

 Zuvor hatte der Sopransaxofonist Wolfgang Fischer über das sphärische „Adagio for Strings“ des Amerikaners Samuel Barber (1910 – 1981) improvisiert. Als weitere Jazzinstrumentalisten waren bei dem höchst interessanten Konzert unter dem Motto „Jazz’n’Strings“ noch der Bassist Mini Schulz und der Schlagzeuger Markus Faller beteiligt. Begeistert und begeisternd gab sich der auch als eloquenter Ansager fungierende Dirigent Bernd Ruf, der ja 2001 in der Kategorie „Classical Crossover“ für den Grammy nominiert wurde.

Als eigene Konkurrenzveranstaltung lief unterdessen im Beethovensaal ein Konzertmarathon mit drei amerikanischen Vokalistinnen. Akkurat, konventionell und nett gaben sich Stacey Kent und Jane Monheit, Dunkles in Timbre und Teint bei Cassandra Wilson. Da vermochte man schon der guten alten Ella Fitzgerald nachtrauern, die an gleichem Ort und Stelle schon so fulminant bewiesen hatte, dass das Primat des schöpferischen (Scat-)Improvisierens auch für die singenden Damen im Jazz gelten darf.

 Auch beim dritten und letzten Konzert im Mozartsaal kamen Künstler der regionalen Szene zum Zuge: der Pianist Joerg Reiter, der Bassist Mini Schulz und der Drummer Bodo Schopf. Dominiert wurden die Schwaben allerdings von einer Amerikanerin. Helen Schneider, am 23. Dezember 1952 Brooklyn geboren und bei den Ansagen ihr Alter kokett verschweigend, feierte in Deutschland besonders Erfolge mit ihren Hauptrollen in „Evita“ und „Cabaret“. Der Musicalstar, ein absoluter Profi, verfügt über eine sonore Mezzosopranstimme mit ausgereiften Vibrato – und natürlich über eine Unmenge schauspielerischer Erfahrungen.

 Es verliert die 1939 entstandene Edelschnulze „Somewhere Over the Rainbow“, die seither von Miss Piggy bis zur Techno-DJ-Queen Marusha drangsaliert wurde, ihre sentimentale Schrecken, wenn Helen Schneider aus voller Röhre tönt. Bob Dylans „Just Like A Woman“ erfuhr noch durch den orgelpunkthaften Bogenstrich von Mini Schulz eine besondere Note. Weit mehr trickste Schulz mit seinem korpuslosen Kontrabass bei anderen Stücken, wenn er wie Jimi Hendrix jaulte oder bei der Udo-Lindenberg-Ballade „Sometimes I Wish“ dank Digitalspeicher die Pizzicato-Figuren aus dem Off erklingen ließ. Der in Mannheim als Professor tätige Joerg Reiter bediente sich modernerer Hilfsmittel, als er außer dem Flügel noch E-Piano und Synthesizer traktierte. Subtil agierte zudem der aus dem Hard-Rock-Metier stammende Schlagzeuger Udo Schopf. Als Zugabe gemeinsam ein deftiger Blues: „Rock Me Baby“.

Der Kunst im kleinen Mozartsaal folgte unmittelbar der Kommerz im Beethovensaal. Dort war das Parkett wieder unbestuhlt, das Outfit für eine ausgelassene Party zum Finale des Festivals. Den Reigen eröffnete Malia, vor 25 Jahren als Tochter eines Engländers und einer Afrikanerin in Malawi geboren. Schade nur, dass das grazile Mädchen nicht wie beispielsweise der Superstar Shadé Authentisches vom Schwarzen Kontinent in ihr Musizieren integriert. Zwar singt sie mit ihrer warmen Tongebung gut und geht energisch zur Sache; zu weit gegriffenen jedoch erscheint es, wenn Malia nach ihrem erfolgreichen Debütalbum ‚Yellow Daffodils“ als „African Queen“ gefeiert und in Verbindung zu Billie Holiday gebracht wird. Nach einer recht arabisch klingenden Intro des Gitarristen Julien Feltin intonierte Malia Henry Mancinis Rührstück „Moonriver“. Fetzig-furios dagegen wurde der „Stormy Weather Blues“ abgehandelt.

 Die britische Band „Incognito“ verharrte auf hohen Intensitätsgraden: Eine kühl kallkulierte Anmache in heißem, souligen Jazzrock. Der aus Mauritius stammende Bandleader Jean-Paul „Bluey“ Maunick (Gitarre) gefiel sich als Publikumgesangsanimateur. Wollt ihr den totalen Chor? Die vor der Bühne stehenden Fans brachten dann doch in getrennten Abteilungen gekonnt Zweistimmiges zuwege. Trompete (Dominic Glover), Posaune (Nichol Thomson) und Saxofon (Ed Jones) lieferten knallharte Bläsersätze, während Keli Sae und Joy Rose als aufregende Vokalsolistinnen brillierten. Vor der Rampe allenthalben hoch erhobene Arme; zuckendes Tänzeln ging durch die Reihen. Musik, die bewegt.

 Die hohe Kunst der Improvisation beherrscht leider nicht jede der auf den JazzOpen präsentierten Ladies. Bei Candy Dulfer, Tochter des holländischen Jazzers Hans Dulfer, war dies von Anfang an anders. Die jetzt 33jährige Blondine preschte als wahres Energiebündel im Sporttrikot und auf hochhackigem Schuhwerk hyperaktionistisch auf dem Podium herum, blies virtuos in ihr messingmattes Altsaxofon und betätigte sich als passable Sängerin. Sex und Sax feierten bei zündendem Funk wieder einmal fröhliche Urständ – eine perfekt inszenierte Show samt Videoprojektionen. Das Unterhaltungsbedürfnis der Massen wurde gestillt, auf der Strecke blieb erneut eine wirkliche Spontaneität. Jazz sollte eben mehr sein als dreiste Stimmungsmache, die fast schon einen faschistoiden Charakter in sich birgt.

 Wie anders war es im Juli 1988, als ebenfalls im Beethovensaal total solo der Stimmakrobat Bobby McFerrin auftrat. Eine wirklicher Künstler, der achtzig Minuten lang fesselnde Musik kreierte. So ein Konzert bleibt unvergesslich. Flüchtiger Schein dagegen prägte etliche (jazzlose) Darbietungen der JazzOpen 2003.  Übrigens: den größten Massenzulauf verzeichnete das Konzert von den Fantastischen Vier. Dreieinhalbtausend Leute erlebten gedrängt und schwitzend im gediegenen Beethovensaal des Konzerthauses Stuttgarter Liederhalle die prominenten  HipHop-Lokalmatadoren.


Rob Birch


Bernd Ruf


Bernd Ruf, Peter Lehel


Gregor Hübner


Cassandra Wilson


Stacey Kent


Jane Monheit


Helen Schneider


Malia


Candy Dulfer

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