DONAUESCHINGEN. 1950, genau vor einem halben Jahrhundert also, begann die fruchtbare Zusammenarbeit des Südwestfunks mit dem vormals auf Kammermusik konzentrierten Novitäten-Festivals von Donaueschingen. Der Rundfunksender prägte von nun als Hauptsponsor auch inhaltlich die Tage für Zeitgenössische Tonkunst. Uraufführungswerke für das hauseigene Sinfonieorchester gerieten zu den herausragenden Ereignissen, Live-Elektronik und Hörspiel fanden zunehmend eine förderndes Podium. In den letzten Jahren gesellten sich Performances und Installationen hinzu, die für die einheimische Bevölkerung inzwischen eine kulturhaltige Gratisgabe am verkaufsoffenen Sonntag bieten. Immer mehr favorisiert Programmmacher Armin Köhler das Internet (www.swr-online.de/donaueschingen) zur ständigen Präsenz und steten Abrufbarkeit – oder gar zum online-Musizieren. Aus der altgewohnten Stereophonie entwickelt sich in den Donaueschinger Konzertsälen eine hochtechnisierte multi-mediale Surround-Show, die über den Transmissionsrahmen des Dampfradios hinauswächst. Allenthalben Musik im Raum mit raffinierten 3-D-Effekten, fast schon im Cyber-Space.
Donaueschingen hat sich etabliert – auch bei mancher Politprominenz: Ex-Bundesinnenminister Gerhart Baum und Kanzler-Witwe Brigitte Seebacher-Brandt zählen mittlerweile zu den Stammgästen. Und da sah man in der ersten Reihe auch Heinrich Erbprinz zu Fürstenberg, der wegen angeblichem Kokainerwerb angeklagt worden ist. Und auch die Bayreuther Urenkelin Nike Wagner sah man.
Welche der Uraufführungswerke des Jahres 2000 werden als Marksteine oder als gar als Repertoirenummer in die Musikgeschichte eingehen? Letztendlich vielleicht keines, alleine schon deshalb, weil etliche den finanziellen Rahmen sprengen.
Beim Eröffnungskonzert des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg unter der kompetenten Leitung von Lothar Zagrosek blieb primär die klingende Dreidimensionalität der in der Baar-Sporthalle verteilten fünf Orchestergruppen haften. Der Einsatz der arabischen Oud und von Celesta bildete in der Komposition „Modell“ von Marc Andrè (geboren 1964 in Paris) eine folkloristische Komponente. Dass die Instrumentalisten ihren Dirigenten nur mittels Videoübertragung auf dem Bildschirm sehen können, gehört inzwischen zu dieser Art von Musik im Raum, die der simplen Guckkastenbühne abschwört und die Zuhörer mitten in der Klanggenese sitzen lässt.
Viele Schabe- und Reibegeräusche kreierte auch Andreas Dohmen in seiner „Musik für Gerhard Richter“. Gag am Rande: diverse Streicher hatten von Diktiergeräten farbiges Rauschen abzuspulen. Der als Intendant zu den Salzburger Festspielen berufene Peter Ruzicka betitelte seine „Spuren für Klarinette und Orchester“ mit „Erinnerung“ – und versprach somit auch nichts Innovatives. Eher vorsichtig als über dem Orchesterapparat thronend hatte die israelische Klarinettistin Sharon Kam zu agieren. Oft romantischer Gestus, wiederholt eine Mozart-Textur, viele auf- und abschwellende Liegetöne sowie Flatterzungen.
Erst das letzte Stück der Musiktage gereichte zum Highlight. Vinko Globokar, der in 1934 Lothringen als Kind slowenischer Eltern geborene Posaunist, demonstrierte erneut, wie perfekt er das Handwerk der Orchesterinstrumentierung beherrscht und er einfallsreich, gewitzt und mit Humor vorzugehen vermag. Der gewiefte Praktiker verleiht so auch noch den lautesten Fortissimo-Schreien eine eine innere Struktur. Zwei Orchestergruppen werfen sich Motive wie Pingpong-Bälle zu, und vom Tonband erklingen Volksweisen aus dem alten, noch heilen Jugoslawien. Der ausgesprochene Anti-Nationalist Globokar hat dazuhin noch Hymnen der neuen Balkanstaaten verarbeitet. „Der Engel der Geschichte“, inspiriert von einem Paul-Klee-Gemälde, vermochte durchweg zu überzeugen.
Wie im Vexierbild erscheint eine andere Nationalhymne in dem mehrsätzigen Auftragswerk „Quadraturen V“, nämlich die der DDR – der in Berlin lebende Österreicher Peter Ablinger hat sich den musikalischen Spaß erlaubt. Auferstanden aus Tontrümmmern…
Armin Köhler hatte im Voraus „The Long Rain“ von Olga Neuwirth als großen Knüller der Donaueschinger Musiktage angekündigt. Zwar keine Uraufführung – wenige Tage zuvor hatte das Gesamtkunstwerk beim Steirischen Herbst Graz seine Weltpremiere erlebt. Science-Fiction-Film auf drei Leinwänden plus aggressiver Live-Musik auf mehreren Podien. Ein finanzieller und planerischer Riesenaufwand – und zuletzt streikte der Computer, der elektronische Musik beisteuern sollte. Die akustische Ausbeute, eben nur eine Teilkomponente von „The Long Rain“, sendet SWR2 am 7.11.2000 um 19.05 Uhr.
Das Stuttgarter SWR-Vokalensemble bestach durch perfekte interpretatorische Leistung. Rupert Huber hatte von dem Prager Martin Smolka das mikrotonale Chorstück „Walden, The Destiller Of Celestial Dews“ einstudiert. Als Reproduzenten vollbrachte auch das „Arcanto“ (mit der Pianistin Yukiko Sugawara, dem Schlagzeuger Christian Dierstein und dem Saxofonisten Marcus Weiss) Höchstleistung. Wolfram Schurig, Stefano Gervasoni und Brice Pauset hatten für das nicht nur in Donaueschingen bewährte Trio eigentlich brave Kammermusik abgeliefert.
Wirklich ärgerlich „The State Paintings With anti-Abstracts“ von Chris Newman: altmodische Moderne, ziemlich verkrampft. Und das Publikum hatte partiell die Holzwände oder primitiv bemalte Tücher anzustarren – der Blickkontakt zum „ensemble recherche“ blieb vielfach verwehrt.
Statische Form im meditativen Charakter anstatt prozessualer Abläufe boten die diversen Installationen. So tönte es kreuz und quer in Donaueschingen – auch im fürstlichen Marstall, wo Mikrofone in Geweihe montiert waren und die akustische Ausbeute postwendend transformiert und wiedergegeben wurde. Renate Hoffleit ersann sich mit mikrofonierten Plexiglasröhren und einem stimmbaren Röhrenstein eine permanente Klanginstallation, zu der im Rund der kleinen Christuskirche ihr Partner Michael Bach Bachtischa mit dem Rundbogen filigran Obertöniges aus den Cellosaiten lockte.
Das obligatorische Jazzkonzert endete erst nach Mitternacht. Eine Überforderung auch der professionellen Zuhörer. Zwölftonpionier Anton Webern mit seiner prägnanten Kürze sollte hier Vorbild sein. Bei der von Achim Hebgen konzipierten SWR-Jazz-Session erging sich zunächst Claudio Puntin in ohrengefälliger Musik, die mittelalterliche Idiome nicht aussparte, bevor der Giga-Multi-Instrumentalist Steffen Schorn aktionistisch zur Sache ging. Nach den beiden europäischen Bands zelebrierte die „Kamikaze Ground Crew“ aus New York ein fröhliches Stilkonglomerat. Die Schnulze „You Are My Sunshine“ funktionierte das Bläsersextett und der eine Schlagzeuger zu einer Abschiedssinfonie um. Feixend verließen die spielenden Amerikaner den Bühnenraum.
(Oktober 2000)