Text & Fotografie: Klaus Mümpfer
Die 62 jährige Jazz- und Blues-Sängerin Dee Brigewater, der 84 Jahre alte Pianist Paul Kuhn und der 68 Lenze zählende Schlagzeuger Al Foster zählen unzweifelhaft zu den Publikums-Lieblingen in der Jazz-Abteilung des Wormser Festivals „Jazz & Joy 2012“. Innovationen und Kreativität sind indessen – wie so oft – in den Randbereichen des zeitgenössischen Jazz und bei den Grenzüberschreitungen zu entdecken. Einen der mitreißenden Höhepunkte präsentiert dasSchweizer Trio des Pianisten Stefan Rusconi. Weitere kreative Glanzlichter setzen das Devil-Quartett des sardischen Trompeters und Flügelhornisten Paolo Fresu und die estnische Sängerin Siiri Siskask.
Wie schon in den zurückliegenden Jahren bietet der romanische Kreuzgang des Andreasstiftes das passenden Ambienten für experimentelle Klangexperimente deutscher Jazzmusiker wie „Duologix“ des Gitarristen Claus Boesser-Ferrrari und des Trompeters Thomas Siffling. Daneben faszinieren mit Vitalität und Sounds das Quintett der Saxophonistin Alexandra Lehmler sowie mit der gleichen künstlerisch anspruchsvollen Klangmalerei die Flötistin und Trägerin des Wormser Jazzpreises 2011, Stefanie Wagner.
Das Trio Rusconi kreiert eine ganz eigenständige und aufregende Klangsprache, in der Avantgarde-Rock und experimenteller Jazz dank Elektronik und ungewöhnlicher akustischer Spielpraktiken miteinander verschmelzen. Stefan Rusconi malträtiert dabei die Saiten des Flügel mit Fäusten und Sticks, Fabian Gisler streicht und zupft den Kontrabass mit gleichermaßen harmonischen und disharmonischen Wendungen während Claudio Stüby die teilweise mit beschwörenden Ostinati gespickten Klangflächen mit jazzigen Rhythmen unterlegt. Keineswegs aufgesetzt wirkt in dieser humoristisch-satirischen Konzeption der „Schrei-Song“, in dem sich das Publikum mit zwölf „positiven Schreien“ Luft machen darf.
Den gegensätzlichen Pol zu dieser brachialen Jazz-Rock-Avantgarde setzt der lyrische Folk-Romantiker Paolo Fresu mit elektronisch aufgeweitetem Spiel auf Trompete und Flügelhorn in Soli sowie in gleichermaßen mitreißenden wie sensiblen Duos mit dem Gitarristen Bebo Ferra. Der findet immer wieder überraschende Akkorde, die Fresu auf dem Fügelhorn paraphrasiert, oder er unterlegt einen minutenlangen schwebenden, modulierten Ton in Zirkularatmung. Die klaren Trompetenlinien verlieren auch in rasantem Spiel nicht ihren lyrischen Charakter, der selbst in die atemlosen Snare- und Shuffle-Rhythmen des Schlagzeuger Stefano Bagnoli einfließt.
Kraftvoll und mystisch zugleich ist die Stimme der estnischen Sängerin Siiri Sisask, die mit Rhythmus-Gruppe und Streichquartett zu „Jazz & Joy“ angereist ist. Ihre Stimme reflektiert und unterstreicht die Melancholie der Lieder, die sie zusätzlich mit gebrochenem Deutschdem Publikum in einer feinfühligen Übertragung vorliest. Ihre Stimme pendelt zwischen dezentem Sopran und tragendem Alt, mal kraftvoll im Volumen, mal wie in „Duft des Mondes“ klar und rein wie Engelsgesang. Triebfeder ihrer Kompositionen wie ihrer Sangeskunst sind Sehnsucht und Emotionen, musikalisch schlägt sie Brücken zwischen Jazz, estnischer Folklore und Klassik.
Grenzen überschreiten mit ihrem feinen und filigranen Spiel, mit Loops und Hall sowie sensiblem Akustik-Spiel der Trompeter Thomas Siffling und der Gitarrist Claus Boesser-Ferrari bei ihrem Projekt „Duologix“. Fragile Klanggebilde und sphärische Sounds prägen das insgesamt melodiöse und impressionistische Spiel der beiden Musiker. Aus der weiteren Region, aber ebenfalls mit hohem künstlerischem Anspruch, präsentieren sich die Saxophonistin Alexandra Lehmler und die Flötistin Stefanie Wagner mit ihren Gruppen. Beide spielen mit Klangfarben und Sounds sowie mit Expressionen und Impressionen.
Dee Dee Bridgwater fasziniert wie immer mit der Strahlkraft ihrer Stimme und einer Wandlungsfähigkeit, die von rasendem Scattgesang in Latin-Kompositionen und erdigem Blues, vom Memphis-Soul im Duo mit dem Saxophonisten Cearig Hand bis zum sensiblen Liebeslied „Bésame mucho“ reicht. Hinter seinen senkrecht stehenden Becken nahezu versteckt trommelt der langjährige Miles-Davis-Drummer Al Foster auf seine unnachahmliche, gleichermaßen groovende wie sensibel zurückhaltende Weise. Mit seinem Quartett rechtfertigt er den Ruf als Drummer-Legende, doch Innovationen sucht man in dem Spiel auf künstlerisch höchstem Niveau ebenso vergeblich wie bei dem inzwischen 84-Jahre alten Pianisten und Sänger Paul Kuhn. „Wir spielen Jazz-Standards so, wie wir sie verstehen“, sagt der Swing-Meister fast entschuldigend, um dann singend und swingend Wohlfühlatmosphäre zu verbreiten. Als kongenialer Begleiter versteht er sich zu Recht anschließend bei den Interpretationen des Sängerin Gaby Goldberg.
Andernorts zieht mit rhythmischem Feuer sowie satten Sounds die Mardi Gras BB das Publikum auf dem Platz vor dem spätromanischen Westchor des Wormser Domes in Bann. Auf dem Schlossplatz erinnert „Guru Guru“ des Schlagzeugers Mani Neumeier mit ungebrochenem Temperament an die alten Krautrockzeiten. Ebenfalls in die Vergangenheit – wenn auch die des Dixieland – führt der Trompeter Rod Mason die zahlreichen Fans des traditionellen Jazz.
Es wäre verwegen, mit den kurzen Charakterisierungen der genannten Gruppen Anspruch auf einen Überblick des gesamten Festivals zu erheben. Es bleibt dennoch festzustellen, dass „Jazz & Joy“ mit dem neuen künstlerischen Leiter David Maier und dem Berater Tomas Siffling an Profil zurückgewonnen hat.