Stuttgart. Viktoria Tolstoy, die schwedische Vokalistin mit den englischsprachigen Songs, hat einen großen russischen Namen. Und tatsächlich: der berühmte „Krieg und Frieden“-Schriftsteller war ihr Ur-Ur-Großvater. Die 29-jährige Blondierte eröffnete ganz wacker die Konzerte in der Liederhalle des diesjährigen Stuttgarter Sommerfestivals „Jazzopen“. Die Autodidaktin verfügt über eine kräftige Stimme, manchmal mit betont rauem Timbre. Freilich wieder einmal: Wie bei den hochgejubelten amerikanischen Diven Jane Monheit und Diana Krall spielt bei ihr das attraktive Äußere eine wichtigere Rolle als die Kunst einer kreativen Improvisation. Da mochte man voller Wehmut wieder an 1988 zurück denken, als im gleichen Beethovensaal der Stimmakrobat Bobby McFerrin total solo achtzig Minuten als wirklicher Jazz-Gipfel achtzig Minuten lang eine höchst spannungsreiche Performance extemporierte…
Handwerklich gediegen gab sich das Begleittrio mit dem Pianisten Jacob Karlzon, dem Bassisten Hans Anderson und dem Schlagzeuger Peter Danemo. Verwendet wurde hauptsächlich Material von Esbjörn Svensson, aber auch Ellingtons „Caravan“ erhielt eine furiose und wenig arabisierende Version.
Nett, aber nicht besonders aufregend gaben sich zwei weitere Sängerinnen nordskandinavischer Provenienz. Die Norwegerin Silje Nergaard konzentrierte sich mehr auf erzählende Balladen, während – rund um Mitternacht im kleineren Mozartsaal – die von dem Elektro-Keyboarder Bugge Wesseltoft betreute Torun Erikson, ebenfalls blond, auch mal ein bisschen blueste.
Zeitgleich ging jedoch im Beethovensaal die Post ab, ganz ohne verträumte Nachtclubatmosphäre. Der umtriebige Posaunist Nils Landgren hat sich jetzt ABBA-Lieder vorgenommen, nach seinen knitzen Worten „typische schwedische Volksmusik“. Exakt zwei Tage vor der „Mamma Mia!“-Premiere erlebte Stuttgart nun die Hits des Erfolgsquartetts in aberwitzigen Arrangements. Da ging es bei „Money Money Money“ oder bei „Dancing Queen“ mit Funk und Rap zur Sache. Manche Fans riss es von den Stühlen um mitzutänzeln. Ohne Blondine vermochte auch der im knallroten Overall agierende Landgren nicht auskommen: Annika Grandlund war als Trompeterin und als versierte Vokalistin gleichermaßen aktiv.
Ein eigenes Abendkonzert im Mozartsaal bestritt tags darauf McCoy Tyner im Mozartsaal – endlich Jazz mit Interaktion und Kommunikation. Geradezu orchestral griff Coltranes Pianist in die Flügeltasten, musizierte meist im modalen Metier und mit konstantem Metrum, verschmähte aber auch straight und stride einen Blues nicht. Als sensible Partner hatte Tyner den Bassisten Charnett Moffett und den Drummer Eric Camau Gravatt mitgebracht.
Währenddessen Souliges von einem anderen Afroamerikaner im doch nicht gefüllten Beethovensaal. Der durch einen Schlaganfall geschwächte Altmeister Les McCann gab sich am Fender-Piano die Ehre, sorgsam unterstützt von schwäbischen Instrumentalisten um den Bassisten Mini Schulz und den Schlagzeuger Obi Jenne. Im Background wirkte die gleiche Crew anschließend bei den populären Pointer Sisters mit. Gut gelaunt und fulminant erinnerten Ruth, Anita und June an ihre Charts-Erfolge („Fire“, „Neutron Dance“ und „Automatic“) von einst.
Zum Finale präsentierten die 11. Jazzopen mit der BBC Big Band und den New York Voices einen Jazz in Reinkultur: Konventionelles in bester Machart. Ein Glücksfall, dass dieses Konzert im Beethovensaal des Stuttgarter Kultur- und Kongresszentrums Liederhalle vom Südwest-Fernsehen mitgeschnitten wurde.
Den amerikanischen Gast-Leiter der BBC Big Band kennt man hierzulande sehr gut. Denn Jiggs Haydn Whigham (Jahrgang 1943) spielte einst Posaune bei Kurt Edelhagen (von dessen publikumszugewandten Dirigierstil ihn offensichtlich inspiriert hat), wurde in Köln der allererste Jazz-Professor Deutschlands, baute in Baden-Württemberg vor über zwei Jahrzehnten das Landesjugendjazzorchester auf und übernahm dann die RIAS Big Band.
Count, Basie, der am 31. August 2004 runde 100 Jahre alt geworden wäre, prägte unüberhörbar wenigstens beim Stuttgarter Gastspiel den Sound der Briten. Adäquat lässig und souverän wurden die ohrengefällige Arrangements interpretiert, und wie mit dem Tenorsaxofonisten Vic Ash und dem subtil-effektvollen Schlagwerker Michael Smith birgt dieses Orchester kompetente Solisten.
Phänomenal ganz gewiss die 1987 gegründeten New York Voices, die sich den swingenden Engländern und Schotten zugesellten. Das weiße Gesangsquartett in der stilistischen Nachfolge von „Manhattan Transfer“ besticht durch äußerste Präzision und durch ein homogenes Klangbild – und lässt erfreulicherweise improvisierte Scat-Vokalisen nicht vermissen. Der Arrangeur, Tenorsänger (und Tenorsaxofonist) Darmon Meader überraschte mit verblüffend artistischen Aktionen, auch der Bassbariton Peter Eldridge imitierte mit seinem Vokalorgan gerne Instrumente. Die beiden in der Mezzosopran-Lage angesiedelten Frauen, Kim Nazarian sowie Lauren Kinhan, machen die Gruppe perfekt – erst recht in verzwackten a-cappella-Nummern. Keine Einschlafmusik, vielmehr eine traumwandlerische Intonation.
Ein Vergnügen war es für die Zuhörer, die sich bei den angelsächsischen Instrumentalisten und bei den New York Voices mit „standing ovations“ bedankten, vertraute Standards in zupackenden Versionen zu goutieren. Da gab es den Benny-Goodman-Schlager „Sing Sing Sing“, Dizzy Gillespies „A Night In Tunisia“ und wieder einmal Ellingtons „Caravan“. Man freut sich auf ein alsbaldiges Wiederhören am heimischen Bildschirm…