Noel Akchoté in der Rüsselsheimer Jazz-Fabrik 1. Juli 2003

Ein Aufbruch aus dem Nichts. Ein schwebender Ton, fast einem Sinuston gleich. Akkordostinati. Eine kurze Pause als Bestandteil der Improvisation. Akkordfortschreitungen werden von elektronischen Sounds unterlegt. Dann eine endlos lange Linie aus kraftvollen Akkordgriffen mit Variationen. Noel Akchoté lässt das Thema laufen mit minimalistischen Harmonieveränderungen. Beständigkeit ist zugleich Bewegung.

Spontane Komposition oder intellektuelles Planspiel? Vielleicht beides! Der 31-Jährige hat präzise Vorstellungen, wie es klingen muss, bearbeitet das Rohmaterial mit Bedacht. Fast eine Stunde sitzt der junge Franzose in einem Set auf der Bühne der Rüsselsheimer Jazzfabrik, spielt mit der Elektronik, lotet die Klangerzeugungen auf der Gitarre aus. Auf dem pulsierenden Klangteppich schichtet der kontrastierende Sounds mit großen Dynamiksprüngen. Dann plötzlich dreht er dem Spiel den Strom ab, lässt Noten und Akkorde zart von den Saiten perlen, bevor die Elektronik voll die Herrschaft über den spärlichen Naturklang übernimmt. Die eigenwilligen Sounds wecken vielerlei Assoziationen. Frequenzrauschen alter Radios, übersteuerte Mikrophone, den rauen Klang verzerrter Saitenrisse, diffuses rosa Rauschen.

Manche Klangfarben lassen sich nur erahnen, wenn Noel Akchoté mit dem Handballen den Korpus seines Instrumentes reibt, wenn der den Hals der Gitarre zärtlich streichelt. Andere Sounds lösen sich deutlicher aus der Grundstimmung. Dann klopft er die Saiten auf den Bünden, dreht die Wirbel, verstellt die Tonhöhen damit die Elektronik die Schleiftöne in Vibrationen verwandeln kann. Die Gitarre wird als Instrument fast zur Nebensache, das Experiment mit den Möglichkeiten der Samples und Scratcher gewinnt die Oberhand. Allen Abstraktionen zum Trotz sind Grundstimmungen spürbar.

Der französische Avantgardist reduziert die Klangerzeugung auf ihre elektronische Essenz. So wird der Gitarrist zum musikalischen Surrealisten. Aus Geräuschen entstehen Klänge, aus den Klängen imaginäre Melodielinien. Der musikalische Ausdruck sprengt die Grenzen dessen, was der Konzertbesucher an Hörgewohnheiten mitgebracht hat.

Noel Akchoté verlangt offene Ohren und einen offenen Geist. Wenn er spielt, dann ist dies ein Spiel im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Spiel im Sammelbecken aller Möglichkeiten elektronischer und akustischer Klangerzeugung, eine Huldigung an das elektronische Zeitalter. Und so ist es fast eine Überraschung, wenn der Experimentator in der Zugabe das Feuerzeug in Bottlenecktechnik über die Saiten gleiten lässt und dann doch verschmierte Hamonien mit ge- und entspannten Stahldrähten aus dem Instrument reißt. Zugegeben: eine harte Kost. Aber aufregend, befreiend und den musikalischen Erfahrungsschatz bereichernd.

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