Moers Festival 2024: Musik, Reflexion und internationale Begegnungen von Nippon bis Namibia

Moers, Pfingsten 2024. Während die Welt scheinbar aus den Fugen gerät, präsentierte das Moers Festival eine einzigartige Zusammenkunft von Musik, Reflexion, Politik und „Superhelden“ für das Pfingstwochenende 2024 an. Die Festivalmacher gingen weit im Vorfeld des Festivals in zwei Ländern auf Forschungsreise um interessante musikalische Gäste an den Niederrhein zu lotsen. Offizielles Partnerland war in diesem Jahr Japan. Vor einigen Jahren gab es schon einmal einen kleinen Japanschwerpunkt, diesmal war die japanische Improvisationsavantgarde mit einer Vielzahl von Musikerinnen und Musikern vertreten. Das Schwerpunktland Namibia wurde musikalisch und mit einer Ausstellung und Diskussionen über historische und gesellschaftliche Fragen präsentiert.

Ich kann nicht genau sagen, warum die Mehrzahl der Besucher zum 53. Moers Festival im Jahr 2024 aufbrach. Einige suchten sicher Zerstreuung – in diesen Zeiten schon verständlich – andere folgten ihrem inneren Kulturauftrag und suchten nach essenzieller Musik am Puls der Zeit. In Moers selbst spazieren Eingeborene Richtung Rodelberg um am Wochenende vorsichtig ungewohnter Musik zu lauschen und, wie jedes Mal, nach dem Rechten zu schauen, bei den Jazzverrückten. Mein eigener Weg nach Moers wurde vor allem von der Neugier auf Neues und Ungehörtes angetrieben.

Moers Festival 2024 – Fotos: Frank Schindelbeck | jazzfotografie.de

Und dann gibt es noch das „Zusammensein“. Es gibt nicht viele Festivals, die so plakativ eine vermeintliche Selbstverständlichkeit in den Mittelpunkt stellen. Und nur wenige lösen dieses Motto so konsequent ein wie das Festival am Niederrhein. Man kann es am Publikum ablesen, wenn die Freejazzer aus Saarbrücken begeistert den entfesselt aufspielenden japanischen Altsaxophonistinnen lauschen, die Bühne am Rodelberg von Tanzwütigen beim afrikanisch geprägten Trommeln gestürmt wird und der doch etwas dick aufgetragene Jazz-Ethno Sound von Jambinai aus Südkorea ganz andere Massen begeistert.

Aber sie sind zusammen und wenn sie sich im Schulhof um die Annex- und Session-Bühne versammeln, wie um ein Lagerfeuer, dann sind sie wirklich gemeinsam. Auch mit den Musikerinnen und Musikern auf der Bühne und die in ihren neuen Zusammensetzungen untereinander.

Kuratorisch vorgearbeitet wurde also durch Reisen und Feldforschungen für dieses Jahr in Namibia und Japan. Zusammenbringen muss nicht unbedingt ins Zusammensein münden. Die Gruppe Menschen aus Namibia war zwar Teil des musikalischen Programms – leider habe ich das verpasst – aber die Präsenz der luftig  bekleideten Menschengruppe in der Enni-Halle, unter dem weitgehend weißen mitteleuropäischen Jazzpublikum wirkte zumindest als Bild etwas befremdlich. Und wie fremd mochte erst vieles um die freundlichen Namibianer herum gewirkt haben. Im Grunde ein Fall für eine Langzeitstudie: Wie wird man in Namibia über dieses Erlebnis sprechen, wie wird es tradiert? Unter das improvisierende Volk der Sessions und auf der Annex-Bühne mischten sie sich nicht, ich traf sie aber gelegentlich in bunten Regenponchos freundlich lächelnd übers Festivalgelände wandern.

Die Entscheidung zur Lücke gehört zum Festivalbesuch. Abgesehen davon, dass Parallelen im Programm zur Auswahl drängten und ohne Moersbike die Wege in die Stadt zeitfressend wurden, tut die Konzentration auf persönliche Interessen der begrenzten Aufnahmefähigkeit ganz gut.

Vor einigen Jahren konnte man in Moers – wo die japanische Szene immer wieder einmal eine größere Rolle spielt – noch eher (mir) bekannte Namen wie Atsushi Tsuyama oder Makoto Kawabate hören. Diesmal spielten für mich weniger bekannte Musikerinnen und Musiker, die meisten auch aus einer jüngeren Generation. Interessante Solisten, mit zwei wirklich bemerkenswerten Altsaxophonistinnen: Nonoko Yoshida und Masayo Koketsu.  Beide waren in diversen Kollaborationen zu hören – Nonoko Yoshida beispielsweise auch in ihrem Duo mit dem Gitarristen Loui Yoshigaki –  und konnten vor allem bei den Sessions von Jan Klare und den von Jean-Hervé Peron betreuten Annex-Sessions überzeugen. Yoshida verkündete es direkt von der Annex-Bühne im Schulhof: Das war ihre Lieblingsbühne in Moers. Und das war sie auch für einen Großteil der Besucher. Befreites Aufspielen freier Musik, Experimentier- und Spielfreude, ein überaus interessiertes und begeistertes Publikum: intensiver wird es beim Jazzfestival nicht. Ambitionierte Projekte, wie das der speziellen Formation „Brötzfrau“ – das war Masayo Koketsu – mit einer auf dem Papier interessant zusammengestellten Besetzung unter anderem mit Caspar Brötzmann, Bart Maris und Conny Bauer wirkten auf mich eher überambitioniert. Nicht schlecht, aber auch nicht so funkensprühend und offen, wie viele der anderen Konzerte und Sessions. Auch die etwas pompös aufgesetzte „afrikanische Oper“ von Eslon Hindundu „Oumwe“ – nicht jedermanns Geschmack.

Ganz nach dem Geschmack der Freunde des freien Jazz waren Auftritte wie der von Christian Lillinger mit Michiyo Yagi und dem Bassisten Takashi Sugawa am Rodelberg. Oder der Auftritt von Philip Zoubek, Sebastian Gramss und Erwin Ditzner dort. Beide Formationen mit starken Schlagzeugern: auf der einen Seite der grooveorientierte Ditzner, der sich vor diesem Background im sich blind verstehenden Trio auf freie musikalische Abenteuer einlässt. Auf der anderen Seite Christian Lillinger, der sich wie immer technisch brillant im Duo mit seinen japanischen Mitmusikern hören ließ.  

Auch in diesem Jahr stand die Open Air Spielstätte im geographischen Zentrum des Festivals zwischen Enni Halle und Schulhof und wurde stilistisch breit bespielt. Nicht zuletzt ziemlich rockig von Colonel Petrov’s Good Judgement . Den sonst eher federleichtflüssig improvisierenden Leonhard Huhn konnte man hier als viril-skurrilen Superhelden über die und vor der Bühne derwischen sehen – ein dynamisches Konzert mit seinen Mitstreitern Sebastian Müller, Reza Askari und Dominik Mahnig und in der extended Moers-Edition mit Thomas Sauerborn und Philip Zoubek – man kennt die Herrschaften aus verschiedenen Kollaborationen der Kölner Szene und schätzt sie eh.

Habe ich von von „Neuem“ gesprochen, das ich beim Festival hören möchte? Einzigartige Erlebnisse werden einem gelegentlich geschenkt. Das Duo Miyama McQueen-Tokita und der Tänzerin Yuki Byeol war eines dieser unerwarteten beeindruckenden und einprägsamen Erlebnis. Fantastisch, wie die Musik der archaischen Groß-Zither aus Japan mit aufsaugender Körperlichkeit in Tanz interpretiert wurde. VAX mit Liz Kosack, Patrick Breiner und Devin Gray wurde aus Gründen zu einem besonders berührenden Konzert. Goat, mit ihren wahnwitzig präzisen musikalischen Morsezeichen: in Trance verführender rhythmischer Flow. Am gleichen Ort, der Kontrast könnte kaum größer sein, Thorsten Töpp an der E-Gitarre, der solo kurz nach Mitternacht ein minimalistisch-individuelles Konzert spielte.  Diesmal auf dem Gipfel des Rodelbergs beim nicht ganz so geheimen mitternächtlichen Solokonzert: Die Französin Cecile Lartigau  mit ihrem exotischen Instrumentarium, den Ondes Martenot. Nie zuvor gehört? Ich auch nicht.

In Erinnerung wird bleiben, wie die japanische Koto im Kontext improvisierter Musik in Facetten von Tradition bis abgefahrener elektronischer Verfremdung zu hören war. Während des Festivals war die Virtuosin Michiyo Yagi so präsent wie eine zweite Artist in Residence. In einer stilistischen Spannbreite vom Kirchenkonzert mit ihrer Kollegin Hiroko Takahashi über ein Duo in der Enni Halle mit Zeena Parkins an der elektrifizierten Harfe bis hin zur Session Bühne im Schulhof. Eine große Spielwiese, die das Moers Festival der Künstlerin bot und sie revanchierte sich mit einem einmaligen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen.

| moers festival

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