Stuttgart – Dem Sommerfestival JazzOpen bekam 1998 das Landessparkassen-Logo „lg“ und eine „Stuttgarter Jazzwoche“ vorangestellt. So konnte sowohl einem finanzkräftigen Sponsor als auch der regionalen Szene Rechnung getragen werden. Der Südfunk war hörfunkmäßig bereits am 11. Juli beim traditionellen Frischluft-Dixie auf dem Killesberg dabei, und in diversen Lokalitäten der Landeshauptstadt traten einheimische Jazzer auf und somit ins festivalwürdige Rampenlicht. „Jazz Meets Classic“ nannte sich ein besonderer Konzertabend im Gustav-Siegle-Haus. Baden-Württembergs diesjähriger Jazz-Preisträger Gregor Hübner konzentrierte sich jetzt auf die virtuose Violine und brachte als – ebenfalls klassisch geschulten – Pianisten Richie Beirach mit. Doch sehr weit in die Musikgeschichte ging man nicht zurück: eine 1908 von Bela Bartok komponierte Bagatelle (Sz 38, Nr. 6) war das älteste Opus, das mit dem swinglosen Thema vorgestellt und dann jazzimprovisatorisch aufgefrischt wurde. Sopransaxophonist Bob Belden wollte eigentlich Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ in einer Jazz-Version darbieten, doch Flötist Patrick Gallois hatte in Paris seinen Flieger verpaßt. So müssen sich die Schwaben wohl weiterhin mit der Interpretation des Barock-Knüllers durch badische Weingläser im südwestdeutschen Werberundfunk begnügen… Aber geschaffen wie aus einem Guß erschienen die Bearbeitungen von Teilstücken aus Giacomo Puccinis Oper „Turandot“. Nur ein kleines, erlauchtes Publikum lauschten den Synthese-Versuchen.
Wer nicht Gershwin-Hits mit einem verregneten Al Jarreau auf der Solitude riskieren wollte, konnte gut bedacht im Hegelsaal eine „Kuba-Nacht“ erleben. Das Eröffnungskonzert der „JazzOpen“ präsentierte dabei nicht etwa die arrivierten und in die USA emigrierten Jazz-Stars Paquito D’Rivera und Arturo Sandoval, sondern Musiker, die auf der Zuckerinsel nach wie vor heiße Musik machen und nun als devisenbringende Exportschlager dienlich sind.
Bei den „Afro Cuban All Stars“ haben sich zumeist betagte Herren zusammengefunden, die immer noch jugendliche Lebensfreude verströmen. Da greift Guillermo „Rubalcaba“ Lopez vehement in die Tasten seines anschlagdynamischen E-Pianos, während der Trompetensatz fetzig strahlt und die Perkussionisten ein rhythmisches Feuerwerk entfachen. Die diversen Sänger intonieren allesamt mit schneidender Tenorstimme, ein hoher Intensitätspegel durchweg – zwei Stunden lang: Salsa auf dem Siedepunkt. Begeisterung im vollen, unbestuhlten Saal, wo ausgelassen mitgezuckt wurde – zum weitschweifigen Tanzen blieb da kein Plätzchen übrig. Konventionell ist die Musik, der improvisatorische Jazzanteil bleibt bei der von dem Sänger und Gitarristen Juan de Marcos Gonzales geleiteten Gruppierung minimal.
Moderner präsentierte sich danach das vielgepriesene Ensemble „Los Van Van“. Auch hier geballte Big-Band-Kraft und in der „frontline“ (chorfähige) Vokalsolisten, aber auch Instrumentalisten mit intensitätsreichen Soli. Da trillierte beispielsweise der Flötist Jorge Lellebre in den höchsten Tönen. Als einige junge Damen – es handelte sich um Freundinnen der Musiker – vom Massenpublikum heraus „spontan“ auf die Bühne gebeten wurden und anzügliche Tanzbewegungen vollführten, wurde der erotische Reizgehalt dieser kubanischen Weltmusik erst recht evident. Wenn diese Show der gute Dizzy Gillespie, der ja häufig in der Stuttgarter Liederhalle trompete, erleben können hätte – der Beboper hätte garantiert seinen karibischen Spaß gehabt.
Schon 1995 proklamierten die JazzOpen „African Grooves“ mit den in Paris lebenden Künstlern Salif Keita und Manu Dibango aus, jetzt wurde erneut eine „Afrika-Nacht“ zelebriert. Mutter Afrika, ohne die es kein Leben für Jazz und Rock-Musik geben würde, reagiert nun auf die vielfältigen Konglomerate, die zum Schwarzen Kontinent (zurück-)finden. Neue Fusionen tun sich auf, eine Pop-Musik mit vergleichsweise einfachen Strukturen. Von der Komplexität der originalen Volksmusiken Westafrikas bleibt da nur wenig erhalten.
Habib Koité tönt anfangs moderat, mit den drei Korpusgitarren und einer am Halsbügel befestigten Mundharmonika erinnert seine Band geradezu an amerikanische Folk-Music und europäische Lagerfeuer-Romantik, schließlich wird noch der „Bruder Jakob“ herbeizitiert. Aber dann schnarren doch urig die Kalebassen. Stimmlich gibt sich Habib Koité mit seinen „Griot-Erzählungen“ ausdrucksstärker und variantenreicher als einst der monoton shoutende Albino Salif Keita.
Die afrikanische Gemeinde Stuttgarts kam zunehmend in ausgelassene Stimmung, tänzelte und stimmte in die obligatorischen Wechselgesänge mit ein. Viel fürs Auge bot der Nigerianer King Sunny Ade mit seinem Orchester „African Beats“. Zwei Po wackelnde Bauchtänzerinnen demonstrierten Fruchtbarkeitsorgasmen, recht weltoffen zeigte sich das Instrumentarium. Da wurde eine Hawaii-Gitarre gezupft, aus den Keyboards kam zuweilen eine Mixtur zwischen westindischen Steeldrums und afrikanischen Xylophonen, Disco-Baßgetrommel tieftönend als Anker. Doch innerhalb der Musik gab es im abgekarteten Spiel kaum Entwicklung, viele Riffs und ostinate Figuren offenbarten eher einen Zustand als einen Prozeß.
Mory Kante verbuchte 1987, als sich die kommerzielle Popszene besonders stark an ethnischer Musik orientierte, mit „Yéké Yéké“ einen globalen Verkaufsknüller. Noch immer hat sein eher dunkles Stimmtimbre einen hohen Erkennungswert. Kantes Devise lautet wohl so: je einfacher, desto besser in der Publikumsresonanz. Die zwischen Bühne und Auditorium ausgetauschten Gesangsphrasen reduzieren sich bei ihm dann auf ein „Lalala“. Wenn er zum Saiteninstrument Kora greift oder auf Trommeln schlägt, läßt er Authentisches ahnen. Reizvoll seine ganz eigenartige Weise, seine Akustikgitarre schnarrend zu bedienen: da tummelte er sich in der phrygischen Skala, und auch seine Vokalisen scheinen vom Zigeuner-Flamenco inspiriert. Und der weiße E-Gitarrist quengelt noch in unerbittlicher Hardrock-Manier.
Daß auch Schweden ungemein temperamentvoll sein können, bewies erneut die „Funk Unit“ des Posaunisten Nils Landgren, der für „Tab Two“ einsprang. Landgren blies mit voller Pulle und schneller Zunge, und die Mangelsdorff’schen Interferenztöne hat er auch drauf. Stilistisch wendig zeigte sich Altsaxophonist Per Johansson, während Baßgitarrist Magnum Coltrane Price noch als aufgekratzter Vokalist fungierte. Funk mit Seele für den Trompeter Nat Adderley, von dem zwei Stücke übernommen wurden.
Fröhlicher Funk oder faschistoide Massenanmache? Dies konnte man sich bei dem als Funk-Pionier gepriesenen Bootsy Collins fragen. Viel szenischer Klamauk und verrückte Klamotten, Glitter und Glamour: die Schau ist alles, willige Zuhörer werden wie Marionetten gesteuert. „Fresh Outta ‚P‘ University“ nennt der Baßgitarrist sein neuestes Projekt, bei dem partiell auch zwei Stuttgarter beteiligt sind. Thomas D. – nunmehr ohne die blonde Jenny Elvers, aber mit schwarzer Afro-Perücke – und Smudo mit Ohrenklappenkappe durften nach ihrem Kurzgastspiel auf der jüngsten Collins-CD auch „live“ schwäbisch-englisch rappen. Keyboarder Bernie Worrel zeigte am Synthesizer nur minimal Ansätze für spontanes Musizieren. Somit belief sich bei diesem Programmteil der Jazzaspekt mal wieder auf Ebene Null.
Der eigentliche Jazz kam erst beim Abschlußkonzert, das dem Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt wurde, zum Zuge. Bericht darüber bei http://www.sdr.de/tv/jazz.